Virus (German Edition)
mich”, fuhr sie dann fort.
„Entweder hatte er es unbewusst und ohne Bedeutung eingefügt oder es gibt eine
Möglichkeit, den Mörder zu stoppen, die er später einfach zu erwähnen vergaß.”
Wieder machte sie
eine Pause. Die Spannung im Raum war förmlich greifbar.
„Also habe ich ihn
darauf angesprochen. Und in der Tat, voilà, es gibt eine.” Sie atmete noch
einmal durch. Es musste raus. „Der Profiler ist der Überzeugung, dass der
Mörder den G8-Gipfel als seine Bühne braucht, dass er ihn benötigt, um seine Botschaft
an die Welt zu senden. Wenn wir also den Gipfel abbrechen, stoppen wir mit
allergrößter Wahrscheinlichkeit auch diese schreckliche Mordserie.”
Es war raus. Was
folgte, war ein langes Schweigen. Herforth konnte förmlich spüren, wie nach und
nach jedem Anwesenden die Tragweite ihrer Worte bewusst wurde. Noch nie in der
Geschichte der G8 oder zuvor in der Geschichte der G7 war ein Gipfel
abgebrochen worden. Nicht einmal die kriegsähnlichen Zustände von Genua im
Jahre 2001 hatten das geschafft. Und nun sollte ausgerechnet ein Gipfel in
Deutschland den Anfang machen? Es war mehr als verständlich, dass den Chefs der
deutschen Sicherheitskräfte das nicht gefallen konnte.
Nicht nur wäre es
eine Blamage für Deutschland, sondern speziell wäre es eine Bankrotterklärung
der für die Sicherheit verantwortlichen Institutionen. Herforth sprach hier die
Möglichkeit an, den Gipfel abzubrechen, weil man nicht in der Lage war, für die
Sicherheit der Teilnehmer zu sorgen. Die Mienen aller Anwesenden zeugten von
Grabesstimmung. Bruncke war es schließlich, der das Schweigen brach.
„Vielen Dank für
Ihren ausführlichen Bericht, Frau Herforth. Ich denke, wir brauchen Sie im
Moment nicht mehr und wir wollen Ihnen nicht die Zeit rauben, den Mörder zu
fassen. Fassen Sie ihn bitte schnell, liebe Kollegin, um uns dieses
Schauerszenario zu ersparen”, sagte er und lächelte ihr gequält zu.
Herforth nickte in
die Runde, klemmte sich ihre Unterlagen unter den Arm und verließ den Raum. Sie
war heilfroh, dass Bruncke sie aus dem Meeting entlassen hatte. Sie hatte ihren
Teil erledigt, ihren Job gemacht, der Rest lag nicht mehr in ihrer Hand.
In ihrer Hand lag es,
den Mörder zu fassen. Aber wie fasste man einen Killer, der in der Lage war, das
Unmögliche möglich zu machen?
38.
Debbie war zurück auf
ihrem Zimmer und durchwühlte ihre Gipfel-Unterlagen. Weil sie und Holger beide
sehr großen Hunger hatten, war Holger schon ins Hotel-Restaurant vorgegangen,
um das Mittagessen zu bestellen, während sie nach der Liste suchte.
Sie wurde aus Holger
nicht schlau, gewann aber immer mehr den Eindruck, dass seine Gleichgültigkeit
eine Fassade war, ein absichtlich hochgezogener Schutzwall, und nicht etwa
Ausdruck eines miesen Charakters. Hin und wieder, in vereinzelten Augenblicken,
schien dieser Schutzwall zu bröckeln, porös zu werden, und dann konnte sie
flüchtige Blicke auf seine wahre Persönlichkeit werfen. In diesen Momenten
gefiel ihr, was sie sah. Doch jedes Mal merkte Holger es schnell, wenn er seine
Deckung vernachlässigte, und gab sich dann alle Mühe, sie wieder zu verstärken.
Warum nur? Was hatte ihn so erschüttert, dass er sich in diesem Maße von der
Welt abkehrte?
Sie erinnerte sich an
seine Worte bei ihrem so konfliktbeladenen ersten Treffen. Ich werde Sie in meine
Gebete einschließen und flehen, dass es sich um eine schwere Belastungsreaktion
handelt. Möge Gleichgültigkeit Ihre letzte Zuflucht sein. Sprach er
aus Erfahrung? Hatte auch er einmal unter einem Schock gelitten? Hatte er
womöglich selbst seinen eigenen Rat nicht befolgt und verdrängt anstatt zu
verarbeiten? War seinem Schutzwall der Zweck zugedacht, die betreffenden
Ereignisse von ihm fernzuhalten?
Sie beschloss, es
herauszufinden – irgendwann. Im Moment aber gab es Wichtigeres zu tun.
Die Gipfelteilnehmer
waren mit einem Wust an Unterlagen versorgt worden, die Debbie samt und sonders
unachtsam auf einen Stoß geschmissen hatte. Es gab Programme, Lagepläne, Vortragsverzeichnisse,
wissenschaftliche Referenzen, Bücherlisten, die Geschichte der G8 in Kurzform,
die Gipfelziele und vieles mehr. Dazwischen fanden sich ihre eigenen Notizen
und Papiere, die sie zur Vorbereitung von Meng Hongs Vortrag benötigt hatte.
Manchmal verfluchte sie ihre Unordnung und ganz besonders in Momenten wie diesem,
wenn sie es eilig hatte. Endlich, beim zweiten Durchsehen des Stoßes, fand sie,
wonach sie suchte: die Liste
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