Virus (German Edition)
einer der Ersten die Kneipe. Sie wirkte gemütlich und
beschaulich, doch ob sie das würde halten können, was die Flyer versprachen,
konnte man ihr natürlich nicht ansehen. Es würde sich jedoch recht bald
herausstellen.
Er steuerte auf die
Theke zu, als er plötzlich merkte, wie Doras Hand der seinen entglitt. Er
drehte sich zu ihr um. Wie versteinert stand sie in der Eingangstür, jegliche
Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen und sie starrte mit leerem Blick in den
Schankraum der Kneipe. Hinter ihr entstand ein Gemurre, sie möge sich
entscheiden, ob sie rein oder raus wolle, und einige Leute drängten sich verärgert
an ihr vorbei durch die Tür.
Passe machte einen
Schritt auf sie zu.
„Was ist los, Dora?”
fragte er sie. „Alles klar?”
Er konnte nachgerade
beobachten, wie sie langsam von einer Art Trance in die Realität zurückglitt.
Wie sie mühsam ablegte, was immer sie in diesen Zustand versetzt hatte. Wie sie
Passes Worte nach und nach wahrnahm, lange nachdem sie verklungen waren. Wie
ihr Blick sich Stück für Stück klärte und ihre leeren Augen sich wieder mit
Leben füllten.
„Was?”
„Ob alles in Ordnung
ist”, erkundigte er sich erneut.
„Hm. Ja, alles gut”,
sagte sie noch immer ein wenig abwesend, ging an Passe vorbei und setzte sich
an die Theke, wo sie den Kopf grübelnd auf ihre Hände stützte.
Passe blickte ihr
nach. Da war es wieder, dieses schreckliche Gefühl. Das Gefühl der vergangenen
Nacht. Das Gefühl, Dora habe ein Geheimnis vor ihm. Nein, es war kein Gefühl
mehr. Es war Gewissheit.
–––––
Holger legte eine
Zweieuromünze auf den Tisch, stand auf und verließ die Kneipe. Das Geld würde
nicht für die Cola und das Wasser reichen, doch das war ihm egal. Er würde
sowieso niemals wieder hierher kommen. Beim Bahnen eines Weges durch die dicht
gedrängten Autonomen nahm er nicht die geringste Rücksicht. Er trat auf Füße, rammte
Ellbogen in Rippen, stieß und schubste. Als er endlich die Tür durchschritt,
sah er erst das komplette Ausmaß des Andrangs. Mindestens dreißig weitere
Globalisierungsgegner hatten an den Biertischen Platz genommen und noch immer
strömten weitere über den Marktplatz in Richtung der Kneipe. Insgesamt musste
es eine Gruppe von siebzig oder achtzig Leuten sein. Was hatte Hagen ihnen
versprochen?
Es hätte ihm fast
egal sein können, denn unabhängig von der zukünftigen Klientel wäre Holger
sowieso nicht mehr in den ‚Dorfkrug’ gegangen, sobald andere Menschen hier
aufzukreuzen begannen. Jede beliebige neue Zielgruppe, die aus mehr als null
Personen bestand, hätte ihn von hier vertrieben. Aber ausgerechnet
Globalisierungsgegner? Vertrieben von den Menschen, die er so abgrundtief
hasste?
Er hasste Hagen
dafür, ihn ausgerechnet durch Autonome ersetzt zu haben und er fragte sich, wieso
er auf einmal so viel hasste. Ihm war doch alles gleichgültig. Hass zerfraß die
Seele, Gleichgültigkeit rettete sie.
Er hatte den Marktplatz
schon nahezu zur Hälfte überquert, als Debbie ihn einholte. Sie sagte nichts,
sondern ging einfach neben ihm her. Natürlich musste ihr sein Verhalten seltsam
vorkommen, aber das war ihm egal.
„Ich denke, dein
Hotel wird ebenfalls über eine annehmbare Küche verfügen”, sagte er schließlich
und ging dann stumm weiter.
36.
Marcel Trébors Hand
zitterte leicht, als er die Zigarette in einer leeren Kaffeetasse ausdrückte.
Es interessierte ihn wenig, dass dies ein Nichtraucherzimmer war. Fahrig kämmte
er sich mit den Fingern durch die Haare und fühlte dabei, dass Schweißperlen
auf seiner Stirn standen. Er wusste einfach nicht, was er machen sollte.
Debbies Reaktion auf
seinen Bericht von Sams Tod, ihre seltsame Frage nach Zeichen bei der Leiche,
hatte ihn verunsichert. Ging hier etwas vor, wovon er nichts wusste? Zwei
Epidemiologen waren in den letzten beiden Tagen umgekommen. Waren es Unfälle
gewesen? Die Organisatoren des Gipfels hatten wissenschaftliche Vorträge bis
auf Weiteres abgesagt. Warum? Rechnete man mit weiteren Toten? Handelte es sich
bei den Todesfällen womöglich gar nicht um Unfälle?
Die Frage, ob er
selbst in Gefahr war, hatte sich in ihm festgebissen und nagte seit dem
Frühstück an ihm. Er hatte Möglichkeiten überprüft, das Land zu verlassen. Der Flughafen
von Rostock war für die Dauer des Gipfels aus Sicherheitsgründen gesperrt, aber
er konnte ab Hamburg fliegen. Das würde gehen.
Immer wieder
versuchte er, zu ergründen, was vor sich ging. Helfen würde ihm
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