Virus (German Edition)
Normalfall gar nicht getraut hätte, sie zu essen. Die Platte,
auf der sie angerichtet waren, als Ganzes und jedes Sandwich einzeln glichen
einem Kunstwerk. Heute aber würde sie sich wohl als Kunstbanausin outen müssen,
denn ihr Magen knurrte massiv.
Neben Bruncke war Andreas
Hanke anwesend, einer der Personenschützer der Kanzlerin. Herforth kannte ihn
aus dem Fernsehen und war ihm auch einmal im Hauptquartier des BKA in Wiesbaden
über den Weg gelaufen.
Die Tür ging auf und zwei
weitere Männer traten ein. Herforth hatte beide noch nie gesehen, wusste aber
sofort, um wen es sich handelte. Generalmajor Ernst von Glagow war unschwer an
seiner Uniform zu erkennen. Trotz der militärisch überaus korrekten Haltung,
die er an den Tag legte, versprühte er viel menschliche Wärme. Sein
schlohweißes, aber immer noch dichtes Haar gab ihm nahezu etwas Großväterliches
und sein Lächeln, als er sich vorstellte und Herforth die Hand schüttelte,
schien von Herzen zu kommen. Von Glagow führte die Streitkräfte, die zur
Unterstützung der Polizei vor Ort waren.
Der andere Mann
musste Klaus Martens, der erste Direktor des Bundesnachrichtendiensts, sein.
Herforth hatte ihn noch nie getroffen, wusste aber, dass er der einzige noch
verbleibende Teilnehmer des Meetings war. Er bestätigte ihre Vermutung, als er
sich ihr vorstellte. Martens war rundlich, von kräftiger Statur, und schwitzte.
Für den obersten deutschen Geheimdienstler gab er keine allzu beeindruckende
Figur ab, doch Herforth hatte gehört, dass er bei all seinen Mitarbeitern
höchsten Respekt genoss.
Ohne übertriebene
Förmlichkeiten ging man sofort in medias res, schließlich drängte die Zeit für
jeden der Anwesenden. Während sie ein kunstvoll angerichtetes Brötchen mit
Thunfischtartar und Kaviar aß, berichtete Herforth vom Stand der Ermittlungen.
Zunächst erzählte sie von den Sachverständigenberichten und den vielen
unerklärlich erscheinenden Umständen. Sie hatte sich alles so zurechtgelegt,
dass sie das schockierende Detail, das sie Meller nach dem letzten Meeting noch
entlockt hatte, erst ganz zum Schluss würde preisgeben müssen.
Von den
unbefriedigenden Sachverständigenberichten kam sie zu der Möglichkeit, es könne
sich um übernatürliche Phänomene handeln. Sie erwähnte, dass man zwar von
natürlichen ausgehe und nach Erklärungen suche, aber nichts ausschließe. Dies
brachte sie zu ihrer Einschätzung der Gefahrenlage für die Regierungschefs. Offensichtlich
könne niemand für die Sicherheit der Politiker garantieren, wenn man gegen
übernatürliche Kräfte kämpfe.
Aus dem Augenwinkel
nahm Herforth wahr, wie Andreas Hanke unruhig die Arme vor der Brust
verschränkte. Selbst für einen Personenschützer, der im Zweifelsfall bereit
war, Kugeln für die Kanzlerin zu fangen, schien der Gedanke, sie gegen
übermenschliche Mächte beschützen zu müssen, nicht behaglich. Das Verschränken
der Arme hätte jeder Psychologe mit Sicherheit sofort als unbewussten
Schutzreflex eingestuft.
Herforth fügte an,
zum weiteren Vorgehen, wenn man es denn mit paranormalen Phänomenen zu tun
habe, wolle sie sich nicht äußern, da dies außerhalb ihrer Zuständigkeit liege.
Die nämlich liege bei Mord und ein Serienkiller sei die andere,
wahrscheinlichere Möglichkeit. Herforth fasste Mellers Täterprofil zusammen und
fügte an, dass sie die Gefahr für die Regierungschefs als gering einschätze,
wenn man es mit einer einfachen Mordserie zu tun habe, denn der Mörder suche
sich offenbar Wissenschaftler und keine Politiker als Opfer aus.
Diese Einschätzung
brachte ihr zufriedene Gesichter in der Runde ein. Hanke machte sogar einen
nahezu erleichterten Eindruck. Doch die Gesichter würden nicht zufrieden
bleiben. Jetzt würde sie die Bombe platzen lassen. Es gab keinen Weg daran
vorbei.
„In seinem
Täterprofil geht unser Psychologe davon aus, dass es wegen der Unfähigkeit des
Täters, Mitgefühl zu entwickeln, nahezu unmöglich ist, die Serie zu stoppen,
ohne den Mörder zu fassen”, sagte sie und machte eine bedeutungsschwangere
Pause. Sie hoffte, ihren Zuhörern würde das gleiche Detail auffallen, das ihr
aufgefallen war, hoffte, sie würden selber die richtigen Schlüsse ziehen, die
gleichen Schlüsse, die sie gezogen hatte, und ihr somit ersparen, es
auszusprechen. Sie hoffte umsonst. Ihre Zuhörer blickten sie lediglich gespannt
an. Sie atmete einmal tief durch.
„Dieses kleine
Wörtchen ‚nahezu’ im Bericht des Profilers störte
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