Virus (German Edition)
aller Gipfelteilnehmer.
Als sie sich zwei
Minuten später im Restaurant der ‚Seemöwe’ zu Holger setzte, ging der gerade
noch einmal die Notizen durch, die er sich in der Kneipe auf der Rückseite des
roten Flyers gemacht hatte. Neue Erkenntnisse hatte er daraus allerdings nicht
ziehen können.
Er hatte sich für
einen Tisch direkt an der großen Fensterfront des Saals entschieden, von wo aus
sie das Meer und den Strand überblicken konnten. Im Moment jedoch gab es reichlich
Wichtigeres, als die Schönheit der norddeutschen Küstenlandschaft.
Holger hatte ihr eine
Cola light bestellt, sich selbst ein Wasser, und für beide eine kalte
Fischplatte, was er mit seiner Hoffnung begründete, dass diese nicht allzu
lange auf sich warten lassen würde. Er hatte richtig gelegen. Kurz nachdem
Debbie sich gesetzt hatte, stellte die Kellnerin die Platte mit diversen
geräucherten und gebeizten Fischfilets und einigen Fischtartars,
Krabbencocktails mit verschiedenen Dressings sowie einen großen Korb Brot vor
ihnen auf den Tisch.
Beide griffen
herzhaft zu. Der Kloß im Hals, der Debbie noch beim Frühstück am Essen
gehindert hatte, war durch die neue Zuversicht, die Holger ihr gegeben hatte,
verschwunden. Endlich konnte sie die Kraft schöpfen, die sie brauchen würde.
„Wir suchen also nach
Epidemiologen, die aus einem Land mit einer lokalen Infektionskette stammen,
richtig?” fragte sie kauend.
„Korrekt”, antwortete
Holger. „Wenn wir mit unserer angenommenen Systematik richtig liegen, müssten
wir die nächsten Opfer hier finden.”
„Lokale
Infektionsketten gab es bei der 2003er SARS-Epidemie, wenn mich nicht alles
täuscht, in China, Großbritannien, Hong Kong, Singapur, Kanada, Vietnam, Taiwan und den
USA”, sagte Debbie. „China und Großbritannien können wir wohl ausschließen,
denke ich, weil der Mörder an diese Länder bereits ein Häkchen gemacht hat.”
Kauend ging sie den Teil der
Liste durch, der die wissenschaftlichen Teilnehmer des Gipfels enthielt. Sie
stutzte.
„Shoot” , sagte sie leise zu
sich, das Wort, das Amerikaner verwenden, wenn sie ‚shit’ meinen, aber meiden.
Dann ging sie die Liste ein zweites Mal durch.
„Stimmt etwas nicht?” fragte
Holger.
„Ich glaube, wir haben unsere Theorie
soeben falsifiziert”, erwiderte Debbie und tiefe Enttäuschung schwang in ihrer
Stimme mit.
„Was ist denn?”
„Es gibt bei diesem Gipfel keinen
weiteren Epidemiologen aus einem Land, das 2003 eine eigene Infektionskette
hatte”, sagte Debbie.
Sie sah, wie Holger überlegte,
während er sich eine weitere Scheibe Brot mit Lachstartar bestrich. „Vielleicht
grenzen wir einfach zu eng ein”, sagte er schließlich. „Warum dürfen es
lediglich Epidemiologen sein? Immerhin haben wir es hier mit einem Virus zu
tun. Ist es da nicht nachgerade diskriminierend, Virologen einfach zu
exkludieren?”
Debbie schmunzelte. Holgers Art
zu reden begann, ihr zu gefallen. Sie hatte etwas Amüsantes, und hätte Debbie
nicht geahnt, dass sie lediglich dem Zweck diente, Distanz zu wahren, hätte sie
sie wahrscheinlich sogar gemocht. Immerhin ging sie inzwischen davon aus, dass
das Leiern und das hochtrabende Vokabular Teil von Holgers Schutzmechanismus
waren, und nicht das Resultat ausufernder Arroganz.
Sie ging die Liste
erneut durch und dieses Mal bezog sie sämtliche Wissenschaftler mit ein. Dann
wurde sie blass.
Eben noch hatte sie
die Länder aufgezählt, die eine eigene Infektionskette gehabt hatten, aber da
war sie nur von Epidemiologen ausgegangen. Dann hatte man Virologen in den
möglichen Opferkreis mit einbezogen, doch noch immer hatte ihr Hirn die
Verknüpfung nicht hergestellt, diese einfache Verknüpfung.
In ihrem Heimatland,
den Vereinigten Staaten, hatte es Sekundärinfektionen gegeben, sie war
Virologin. Doch sie hatte erst ihren Namen auf der Liste lesen müssen, bis sie
den schockierenden Schluss hatte ziehen können.
Sie war ein mögliches
weiteres Opfer.
Sie spürte Holgers
Blick auf sich.
„Was drückt dir auf
das Seelenheil?” fragte er. In Momenten wie diesem verabscheute sie sein Leiern.
Hatte es ihr eben noch gefallen? Schwachsinn.
Wortlos gab sie
Holger die Liste und schob ihren Teller weg. Der Kloß in ihrem Hals war zurück
und hatte einen Kumpel mitgebracht. Sie würde keinen Bissen mehr herunter
bekommen. Holger sah die Liste durch, und Debbie beobachtete, wie auch er
danach noch einmal von vorne anfing. Denn die Tatsache, dass Debbie ein potenzielles
Opfer
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