Virus
durchs Fenster und sah, wie ein Mann den mit einem Münzeinwurf ausgestatteten Zeitungsständer draußen auffüllte. Sobald er gegangen war, rannte sie hinaus und holte sich Atlanta Journal and Constitution. Über das Seuchenkontrollzentrum stand nichts drin, aber im Morgenfernsehen kam im Verlauf der Frühnachrichten eine Meldung, daß es im CDC irgendwelche Probleme gegeben habe. Das Hochsicherheitslabor wurde nicht erwähnt, doch es wurde mitgeteilt, daß ein Techniker wegen des Einatmens von phenolischem Desinfektionsmittel im Emory-Universitätskrankenhaus hätte behandelt werden müssen, aber bereits wieder entlassen worden sei. Anschließend folgte ein Telefoninterview mit Dr. Cyrill Dubchek. Marissa beugte sich vor und drehte die Lautstärke auf.
»Der erkrankte Techniker war das einzige Opfer«, erklärte Cyrill mit metallischer Stimme. Marissa fragte sich, ob er wohl in Atlanta oder noch in Philadelphia sei. »Es wurde versehentlich ein Notfall-Sicherheitssystem ausgelöst. Es ist alles unter Kontrolle, und wir sind in Verbindung mit dem Vorfall auf der Suche nach Dr. Marissa Blumenthal.«
Der Sprecher unterbrach die Telefonverbindung mit dem Hinweis, daß zweckdienliche Mitteilungen über den Aufenthalt von Dr. Marissa Blumenthal an die Polizei von Atlanta zu richten seien. Dazu zeigte man etwa zehn Sekunden lang das Foto, das sie ihrer Bewerbung beim Seuchenkontrollzentrum beigefügt hatte.
Marissa schaltete den Fernseher ab. Sie hatte nicht mit der Möglichkeit gerechnet, daß ihre Verfolger ernstlich verletzt sein könnten, und war aufgeregt deshalb, obgleich der Mann ja versucht hatte, ihr ein Leid anzutun. Tad hatte schon recht mit seiner Feststellung, sie zöge Schwierigkeiten regelrecht hinter sich her.
Als Marissa damit gescherzt hatte, daß sie »auf der Flucht« sei, hatte sie das eher im übertragenen Sinne gemeint. Jetzt aber, nachdem sie den Aufruf des Fernsehsprechers gehört hatte, der zu Informationen über ihren Aufenthaltsort aufforderte, wurde ihr bewußt, daß aus Spaß Ernst geworden war. Sie war jetzt eine »gesuchte Person«, zumindest für die Polizei von Atlanta.
Marissa räumte ihre Sachen zusammen und beeilte sich, aus dem Hotel auszuziehen. Während der ganzen Zeit, als sie am Empfangsschalter stand, war es ihr mulmig, denn schließlich stand auf dem Anmeldeformular schwarz auf weiß ihr Name. Doch alles, was der Angestellte dort zu ihr sagte, war: »Schönen Tag auch noch!«
In einem Schnellrestaurant gönnte sie sich hastig einen Kaffee und einen Krapfen und fuhr dann zu ihrer Bank, die glücklicherweise gerade heute Frühöffnung hatte. Am Autoschalter versuchte sie ihr Gesicht zu verbergen für den Fall, daß der dortige Kassier schon die Frühnachrichten gesehen hatte, aber der Mann wirkte so uninteressiert wie immer. Marissa hob fast ihr gesamtes Sparguthaben ab, nämlich 4650 Dollar.
Das Geld in ihrer Tasche machte sie etwas entspannter. Sie lenkte ihren Wagen zur Auffahrt auf die Bundesautobahn 78 und schaltete das Radio ein. Sie war auf dem Weg nach Grayson/Georgia.
Die Fahrt war nicht besonders anstrengend, aber doch länger, als Marissa angenommen hatte, und auch nicht sonderlich interessant. Das einzig Sehenswerte auf der Strecke war eine geologische Besonderheit, die man den Steinberg nannte. Er ragte als Kuppel aus kahlem Granit über die bewaldeten Hügel wie das Windelpaket über dem Hinterteil eines Babys. Nachdem sie an der Stadt Snellville vorbeigefahren war, wandte sich Marissa auf der Autobahn 84 nach Nordosten, und die Umgebung wirkte zusehends ländlicher. Schließlich erreichte sie eine Tafel mit der Aufschrift »Willkommen in Grayson«. Leider war sie mit Löchern übersät, als ob sie als Zielscheibe für Schießübungen benutzt worden sei, was ihre Botschaft etwas zweifelhaft erscheinen ließ.
Die Stadt selbst entsprach genau Marissas Vorstellungen davon. Die Hauptstraße war gesäumt von Backstein- und Fachwerkhäusern. Es war die Szenerie für die Bankraubepisode eines Films, und das größte Geschäft am Platz war eine Eisen- und Haushaltswarenhandlung. An einer Straßenecke hatte eine Bank mit granitverkleideter Fassade eine große Uhr mit römischen Ziffern zu bieten. Offensichtlich war das genau die Stadt, in der man dringend eine Absaughaube vom Typ HEPA 3 brauchte!
Die Straßen, in denen Marissa gemächlich herumkurvte, waren nahezu leer. Sie sah keinerlei Fabrikgebäude und überlegte sich, daß die Firma »Professional Labs«
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