Virus
Gegenden und zu verschiedenen Zeiten mit der tödlichen Krankheit infiziert.
Daß das fehlende Material aus dem Röhrchen E 39 diegeheimnisvolle Quelle der Ausbrüche in den USA war, war die einzige Erklärung für die Fragen, die durch die Tatsache aufgeworfen wurden, daß die Inkubationszeiten so ganz ungewöhnlich lang waren und daß, obwohl der Virus zu Veränderungen neigte, die Ausbrüche jeweils durch denselben Stamm ausgelöst wurden. Noch schlimmer aber – jemand wollte vermeiden, daß diese Information verbreitet würde. Aus diesem Grund hatte man sie aus dem Ebola-Team entfernt und jetzt gerade zu ermorden versucht. Die Erkenntnis, die ihr jedoch am meisten zu schaffen machte, war, daß nur jemand mit der Erlaubnis, das Hochsicherheitslabor zu betreten – wahrscheinlich jemand vom CDC-Personal –, sie dort hatte überfallen können. Sie machte sich Vorwürfe, daß sie nicht geistesgegenwärtig genug war, nachzuschauen, wer sich eingetragen hatte, als sie ihren Ausgang bestätigt hatte.
Sie war bereits in die Straße eingebogen, in der Ralphs Haus stand, da sie ihm von ihren Befürchtungen berichten wollte. Doch plötzlich fand sie es unfair, ihn auch noch in die Geschichte hineinzuziehen. Sie hatte schon Tads Freundschaft ausgenutzt, und wenn er morgen ihren Namen auf der Besucherliste finden würde, müßte sie sich wohl als für ihn erledigt betrachten. Ihre einzige Hoffnung war, daß ihre beiden Angreifer wohl kaum von ihrem Aufenthalt im Hochsicherheitslabor berichten würden, denn sonst müßten sie ja mit einer Anklage wegen ihres Überfalls rechnen. Aber selbst dann konnte sie nicht sicher sein, daß sie sich nicht eine überzeugende Lüge darüber einfallen ließen, was vorgefallen war. Dann würde deren Wort gegen das ihre stehen, und Marissas Wort hätte morgen beim Seuchenkontrollzentrum bestimmt keinen sonderlichen Stellenwert mehr – da war sie sich ganz sicher. Und zu alledem mußte sie damit rechnen, daß morgen die Polizei von Atlanta nach ihr suchen würde.
Als es Marissa einfiel, daß ja ihr Koffer immer noch im Auto lag, fuhr sie zum nächstgelegenen Motel. Kaum hatte sie das ihr zugewiesene Zimmer betreten, als sie RalphsNummer wählte. Nach dem fünften Klingeln ertönte seine schläfrige Stimme.
»Ich bin wirklich so lange aufgeblieben, wie es ging«, sagte er. »Warum sind Sie denn nicht mehr vorbeigekommen?«
»Das ist eine lange Geschichte«, antwortete Marissa. »Ich kann das jetzt nicht alles erklären, aber ich bin in ernstlichen Schwierigkeiten. Ich werde wahrscheinlich sogar einen guten Strafverteidiger brauchen. Können Sie mir einen empfehlen?«
»Großer Gott«, sagte Ralph, plötzlich gar nicht mehr schläfrig. »Mir scheint, daß Sie mir wirklich lieber sagen sollten, was los ist!«
»Ich möchte Sie da nicht hineinziehen«, erklärte Marissa. »Alles, was ich sagen kann, ist, daß die ganze Situation ausgesprochen ernst ist, daß ich mich aber im Augenblick nicht an die Behörden wenden möchte. Wahrscheinlich muß ich mich als ›auf der Flucht befindlich‹ bezeichnen!« Sie ließ ein unechtes Lachen erklingen.
»Warum wollen Sie denn nicht zu mir kommen?« fragte Ralph mit ruhiger Stimme. »Sie wären hier dann ganz gewiß in Sicherheit.«
»Ralph, es ist mein fester Entschluß, Sie da nicht hineinzuziehen. Aber einen Anwalt brauche ich. Könnten Sie einen für mich auftreiben?«
»Aber selbstverständlich«, gab Ralph zurück. »Ich möchte Ihnen auf jede erdenkliche Weise helfen. Wo stecken Sie denn?«
»Ich melde mich wieder«, sagte Marissa ausweichend. »Aber jedenfalls herzlichen Dank dafür, daß ich Sie als Freund betrachten darf.«
Marissa legte auf und nahm allen Mut zusammen, um Tad anzurufen und sich zu entschuldigen, bevor er von anderer Seite erfahren würde, daß sie sich seine Zugangskarte angeeignet hatte.
Sie holte tief Luft und wählte. Nachdem sie es eine Weilehatte klingeln lassen, ohne daß sich jemand gemeldet hätte, verließ sie der Mut, und sie entschloß sich, ihn nicht aufzuwecken.
Marissa nahm nun den Brief der Firma Labortechnik aus der Tasche und strich ihn wieder glatt. Grayson würde jetzt ihr nächstes Ziel sein.
KAPITEL 12
21. Mai
Obwohl sie völlig erschöpft war, schlief Marissa schlecht und wurde von Alpträumen geplagt, in denen sie durch fremde Landschaften gejagt wurde. Als das durch das Fenster einströmende Licht des frühen Morgens sie weckte, war das förmlich eine Erleichterung. Sie schaute
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