Visby: Roman (German Edition)
bester Gesundheit. Sie werden sich aber kaum von einem Fremden ausfragen lassen. Diesen Teil der Nachforschungen uebernehme ich selbst.
ANNIKA
Fünf Uhr nachmittags, und es ist dunkel. Schon als ich vom Labyrinth zurückkam, sickerte Dämmerung in den Dunst zwischen den Häusern. Ljugarn ist ein Ferienort, still, so wie es in Eiderstedt still wird, wenn die Urlauber wieder fort sind. Nur dass die Stille hier tiefer ist. Es fahren kaum Autos. Die Siedlungen liegen weit über die Insel verstreut, getrennt durch Wälder und weite Felsflächen, auf denen Gras und Wacholder wachsen. Die Häuser in Ljugarn stehen einzeln, von Wiesen und alten Bäumen umgeben, am Ortsrand verlieren sie sich im Wald. An der Hauptstraße gibt es zwei Läden, ein Café, ein Restaurant. Alles Übrige scheint für den Winter geschlossen. Die Laternen beleuchten leere Straßen.
Sogar das Meer klingt hier fremd. Ich stehe im Hafen am Ende der Mole und höre, wie es träge zwischen die Felsblöcke schwappt. So still. Ist unser Meer jemals so still?
Kein Stern ist zu sehen. Kein Rest von Abendlicht am Himmel. Alle acht Sekunden wischt der Strahl des Leuchtturms, der hinter mir am Ufer steht, durch den Dunst über dem Wasser. Weit draußen blinkt ein zweiter Leuchtturm, in anderem Rhythmus. Rechts davon und in größerer Nähe brennt eine einzelne Laterne. Was sie wohl beleuchtet? Einen einzelnen Bauernhof vielleicht, die Zufahrt zum Wohnhaus, in dem unbekannte Menschen ein unbekanntes Leben führen. Um einen Küchentisch sitzen, essen und sich unterhalten, dann die Vorhänge zuziehen, die Türen abschließen, den Fernseher einschalten, später schlafen gehen. Unberührt von dem, was mir Angst macht. Unberührt. Ich höre dem Meer zu, das so leise, so unauffällig gegen das Land brandet, und die Annika, die hier steht und lauscht, die durch den Ort irren kann, ohne dass jemand sie erkennt und grüßt, diese Annika erscheint mir wie ein Geist. Als wäre ich nicht wirklich nach Gotland geflogen, sondern hätte nur meinen Schatten hinübergeschickt. Und nun zeichnet sich dort über dem Wasser, vor dem feuchten, winderfüllten, fast schwarzen Grau, die eigentliche Annika ab. Sie ist in Eiderstedt geblieben und folgt vertrauten Pfaden. Betreut den Laden in Sankt Peter, modelliert Seebären und Möwen in der Werkstatt. Holt Nina vom Sport ab. Kocht Essen, wäscht ab, räumt die Küche auf. Überlegt, wann sie wieder einkaufen muss und ob morgen früh zwischen dem Bezahlen von Rechnungen und dem Zerkleinern von Brennholz noch Zeit bleiben wird, die Obstflecken aus Ninas Lieblings-T-Shirt zu reiben, es zu waschen, zu trocknen und zu bügeln, damit Nina es am nächsten Tag wieder anziehen kann.
Mein Leben. Mein Zuhause. Fast unverändert. Nur dass seit ein paar Monaten Adrian fehlt.
NILSSON
KÖLN/SENNEWITZ
18. BIS 23. AUGUST 2005
Ich erwarte, dass Sie diesen Bericht anschließend wegwerfen. Es gibt nur dieses eine Exemplar. Die Datei habe ich bereits von meinem Rechner entfernt. Ich habe sogar daran gedacht, das Ganze mit der Hand zu schreiben, aber das schien mir doch übertrieben. Schließlich habe ich nicht vor, berufliche Interna zu verraten. Die würden Sie ohnehin nicht interessieren. Aber es gibt ein oder zwei Vorfälle, die man mit etwas bösem Willen benutzen könnte, um bestimmte Personen in Schwierigkeiten zu bringen – und auch wenn mir die Betreffenden nicht sonderlich am Herzen liegen, wäre ich nicht gern derjenige, der sie bloßstellt. Deshalb möchte ich nicht, dass dies hier außer Ihnen noch jemand liest. Ich verlasse mich darauf, dass Sie das respektieren.
Ich bin Dhanavati Reinerts zum ersten Mal an einem Badesee begegnet. Früh am Morgen, etwa eine Woche vor Ende August. In Sennewitz in Brandenburg. »Begegnet« heißt in dem Fall nicht, dass wir miteinander geredet hätten. Ich sah sie vom Bootssteg ins Wasser springen und um eine Landzunge herum davonschwimmen. Das war alles. Ich wusste nicht einmal, wer sie war. Im Seehotel Sennewitz fand zu diesem Zeitpunkt eine wissenschaftliche Tagung statt, und ich konnte mir ausrechnen, dass sie zu den Teilnehmern gehörte, doch als ich beim Frühstück im Speisesaal nach ihr Ausschau hielt, erkannte ich sie nicht wieder.
Ich war am Nachmittag zuvor von Köln aus nach Sennewitz gefahren, um mit meinem Chef zu sprechen, Ulrich Frohnert, dem Leiter des Instituts für Angewandte Informatik in Köln. Am Abend hatte Frohnert keine Zeit für mich gehabt, da eine Vorstandssitzung des
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