Visby: Roman (German Edition)
Sport – Steffen ist einer dieser Menschen, die einem alle gängigen Schlagarten beim Badminton aufsagen können, aber schon beim Federballspielen im Park keinen Ball treffen. Zwischendurch schob ich Fragen zu seiner Arbeitsgruppe ein, und das Ergebnis war: Alles in bester Ordnung. Es herrschte ein gutes Klima, jeder arbeitete engagiert mit, niemand wirkte unzufrieden.
Schön für Steffens Arbeitsgruppe, wenig hilfreich für mich. Und dann erwähnte Steffen dort am Tresen unserer Kneipe noch etwas, das mich zusätzlich beunruhigte: Im Augenblick befasste sich seine Arbeitsgruppe gerade mit einem neuen Denkansatz für die Simulationen, einer Idee, die unser Direktor an sie herangetragen hatte und die mit zellulären Automaten zu tun hatte.
Blind seer kam in seinem Artikel ebenfalls auf zelluläre Automaten zu sprechen, als eine neue, besonders perfide Methode, Kriegsspiele zu programmieren. Offensichtlich war er nicht nur über die Ziele der Gruppe informiert, sondern über jedes neue Konzept, das dort diskutiert wurde.
Ich überlegte kurz, ob ich Steffen einweihen und um Hilfe bitten sollte, aber Steffen ist nicht zum Lügner geschaffen. Es wäre ihm schwergefallen, sich bei der Arbeit nichts anmerken zu lassen. Also tranken wir noch ein Kölsch, und ich ging nach Hause, besorgt und keinen Schritt weiter.
Am nächsten Tag musste ich ein langwieriges Problem mit dem Kundendienst für unsere Kopierer lösen und hatte erst spät am Nachmittag wieder Zeit für die Suche nach blind seer . Von Peace Moves war keine Auskunft zu erwarten – im Gegenteil, man hätte den Leuten dort keine größere Freude machen können, als aufgeregt nach dem Autor des Artikels zu fragen. Ohne viel Hoffnung startete ich eine Serie von Suchanfragen auf den Mailservern des IAI , nach Begriffen wie blind seer , Peace Moves , der E-Mail-Adresse des Magazins und so weiter. Vergeblich natürlich. Wer wäre auch so dumm gewesen, eine Mail, in der man Geheimnisse verriet, vom Institut aus zu versenden.
Es gab jedoch noch eine Gruppe von Menschen, die zumindest theoretisch über Steffens Arbeit informiert sein konnten: die Mitarbeiter des AIMSEP , des Århuser Instituts für Medizinische Statistik und Epidemiologie. Um ein Computerprogramm zu entwickeln, das den Verlauf von Epidemien vorhersagt, braucht man medizinisches Fachwissen, und vor allem braucht man solide Daten über reale Epidemien. Diese Daten bezog Steffens Arbeitsgruppe vom AIMSEP – vielmehr sollte sie sie von dort beziehen, noch waren die Bedingungen für die Zusammenarbeit nicht geklärt. Trotzdem konnte auch ein Mitarbeiter des AIMSEP genug über unser Projekt erfahren haben, um blind seer den Stoff für seinen Artikel zu liefern.
So kam Dhanavati ins Spiel. Als ein Name unter vielen, die ich von der Website des AIMSEP abschrieb. Ich wusste nichts über sie, außer dass sie Mathematikerin war und über komplexe Systeme publiziert hatte und folglich verstanden hätte, worum es bei Steffens Projekt ging. Sie war nicht verdächtiger als die Sekretärin der Institutsleiterin, die es sicherlich geschafft hätte, eine Projektbeschreibung vom Schreibtisch ihrer Chefin zu entwenden und für blind seer zu kopieren.
Der nächste Ansatzpunkt für meine Suche fiel mir ein, während ich am Wochenende das Fahrrad meiner Tochter reparierte. Menschen, die sich für ihre Internetauftritte ein Pseudonym zulegen, benutzen es häufig mehrfach. Sie verlieben sich in ihren Decknamen, identifizieren sich mit ihm, bauen unter diesem Namen gewissermaßen eine zweite Persönlichkeit auf. Ohne sich bewusst zu machen, wie viel man so über sie herausfinden kann.
Ich setzte mich an den Computer und begann, in Newsgroups, Weblogs und Internetforen nach blind seer zu suchen. Und tatsächlich. In einem englischsprachigen Forum stieß ich auf jemanden, der Tipps für den Fahrradurlaub in Nordjütland gab.
Nordjütland. Sicherheitshalber sah ich im Atlas nach: Die Region beginnt keine fünfzig Kilometer nördlich von Århus. Natürlich konnte das Zufall sein: ein anderer blind seer , oder jemand, der von Deutschland aus in Nordjütland Urlaub gemacht hatte. Aber es war die erste vielversprechende Spur.
Zu diesem Zeitpunkt kannte ich noch niemanden vom AIMSEP persönlich. Ich wusste nur, was Steffen gelegentlich erzählt hatte: dass die Leiterin, Maria Kingsley, eine renommierte Tropenmedizinerin war, dass sie viele Jahre in Afrika gearbeitet hatte und Verbindungen zur WHO und anderen internationalen
Weitere Kostenlose Bücher