Visby: Roman (German Edition)
Konsortiums stattfand, das die Tagung organisiert hatte. Also hatte ich mit einem Kollegen vom IAI ein oder zwei Bier getrunken, war früh schlafen gegangen und früh aufgewacht, und um mir die Zeit zu vertreiben, bis ich unseren Direktor guten Gewissens ansprechen konnte, war ich vor dem Frühstück schwimmen gegangen.
Manche Erlebnisse kondensieren im Rückblick zu Bildern, die im Gedächtnis bleiben, ohne dass man genau weiß, warum. Es war ein schöner Morgen. Die Sonne stand niedrig über den Bäumen, im Schatten hing Dunst über dem Wasser. Drinnen im Hotel herrschte hinter den Kulissen vermutlich längst geschäftiges Treiben, doch hier draußen am See konnte man glauben, dass alles noch schlief.
Ich war weit über die Seemitte hinausgeschwommen und hatte mich dann treiben lassen. Als ich wieder zum Hotel schaute, stand jemand auf dem Anleger. Eine Frau. Ihre Kleidung lag neben ihr auf den Bohlen. Sie stieg auf das Geländer am Ende des Stegs – erst auf die untere Stange, dann auf die obere – und richtete sich auf. Sie stand dort, als hätte sie ein Mittel gegen die Schwerkraft gefunden. In Wirklichkeit dauerte es sicher maximal eine halbe Sekunde, aber es sah aus, als könnte sie ewig so stehen bleiben. Das Sonnenlicht streifte flach über Körper und Gesicht, die kurzen Haare leuchteten. Sie hob die gestreckten Arme, ließ sich nach vorn fallen und tauchte kopfüber ins Wasser.
Der Name Dhanavati Reinerts war mir schon etwas früher begegnet. Mitte August war in dem Online-Magazin Peace Moves ein Artikel über unser Institut erschienen, in dem behauptet wurde, am IAI fände illegale Rüstungsforschung statt. In Planspielen am Computer würden Strategien für einen Angriffskrieg mit Biowaffen erprobt. Solche Legenden tauchen in den Kreisen der Friedensbewegung immer wieder einmal auf, und normalerweise bringen sie niemanden um den Schlaf. Aus diesem Artikel ging jedoch hervor, dass der Autor – blind seer nannte er sich – über Insider-Kenntnisse verfügte. Manche Details konnte er nur von jemandem erfahren haben, der an einem unserer Projekte beteiligt war.
Das IAI betreibt keine Grundlagenforschung. Wir entwickeln handfeste Lösungen für konkrete Probleme, im Auftrag der Privatwirtschaft oder des Staates. Keiner unserer Auftraggeber wäre begeistert, Einzelheiten seiner Forschung im Internet nachlesen zu können.
Ich hatte den Artikel nicht selbst entdeckt. Ein ehemaliger Kollege hatte mich per E-Mail auf ihn hingewiesen, mit dem Kommentar: »Dein Chef wird sich freuen.« Er hatte recht. Frohnert war außer sich. Er verlangte, dass ich die undichte Stelle umgehend aufspürte und eliminierte, wie er sich ausdrückte. Zu dem Zeitpunkt bewarb sich das IAI gerade um einen Auftrag, für den ein höherer Level an Geheimhaltung notwendig sein würde. Ein Mitarbeiter, der Interna ausplaudert, war da untragbar.
Als Technischer Leiter des IAI bin ich auch für Sicherheitsfragen zuständig, das Problem fiel also in mein Ressort. Die naheliegenden Verdächtigen waren natürlich diejenigen Personen, die an besagtem Projekt mitarbeiteten. All diese Männer und Frauen waren jedoch entweder seit mehreren Jahren am IAI oder hatten vorher an ähnlichen Instituten gearbeitet. Das IAI ist auf das Entwickeln von Computerprogrammen spezialisiert, mit denen sich komplexe natürliche Prozesse simulieren lassen – das Wetter, der globale Klimawandel, die Luftströmungen am fahrenden Auto und so weiter. Es ist eine anspruchsvolle, stark anwendungsorientierte Arbeit, und die Leute, die zu uns kommen, sind entsprechend motiviert. Über die unausgegorenen Friedenspredigten von blind seer hätten sie nur den Kopf geschüttelt.
Andererseits wäre auch keine dieser Personen so unvorsichtig gewesen, außerhalb des Instituts derart offenherzig über die eigene Arbeit zu reden, dass ein Dritter daraus den Artikel hätte zusammenstückeln können. Damit blieb die Möglichkeit, dass einer von ihnen den Artikel aus Bosheit lanciert hatte, um sich für irgendein Unrecht zu rächen.
Auch das kam mir wenig wahrscheinlich vor. Trotzdem ging ich kurz vor Feierabend bei Steffen Wiebecke vorbei, einem Informatiker, der zu der fraglichen Arbeitsgruppe gehört. Ich wusste, dass sein Auto in der Werkstatt war, und bot ihm an, ihn in die Stadt mitzunehmen – das Institut liegt einige Kilometer außerhalb. Unterwegs ließ er sich leicht dazu überreden, noch ein Bier trinken zu gehen. Wir schwatzten über alles Mögliche, hauptsächlich
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