Visby: Roman (German Edition)
und putzte Fenster. So sauber wie in jenen Wochen war unser Haus noch nie gewesen. Ich konnte mich auf nichts konzentrieren, schon gar nicht auf das Modellieren von Möwen, aber das Putzen gab mir das Gefühl, dass die Welt sich trotzdem weiterbewegte. Ich wischte also Fensterrahmen und Scheiben sauber, sagte mir den Satz vor, der in diesen Wochen mein Mantra wurde – er kommt wieder, er hat es versprochen –, und dachte darüber nach, ob ich Leander Schmitz damit beauftragen sollte, Adrian zu finden.
Stattdessen rief ich Jörg an, mit dem ich zur Schule gegangen bin und der mittlerweile in Husum Polizist ist. Wir trafen uns am nächsten Tag während seiner Mittagspause. Er erklärte mir, dass Adrian nach den Maßstäben der Polizei nicht als vermisst galt und dass sich in Deutschland jeder Dilettant Privatdetektiv nennen darf. Weniger bereitwillig erklärte er mir, wie ich selbst herausfinden könnte, wo Adrian sich aufhielt. Eine der Möglichkeiten, die er mir nannte, war: Kontobewegungen überwachen.
Am Nachmittag begleitete ich Nina zum Reiterhof und ließ mir von Paula zeigen, wie man übers Internet mit der eigenen Bank verkehrt. Am späten Abend, als Nina schlief, setzte ich mich an den Computer. Paula hatte mir verraten, wie ich die Internetadresse unserer Bank schnell herausfinden konnte: indem ich mir anzeigen ließ, welche Adressen Adrian zuletzt besucht hatte. Für das Konto wirst du ein Passwort brauchen, hatte sie mich gewarnt, es sei denn, Adrian hat seines gespeichert, und das wäre sehr unvorsichtig von ihm. Aber offenbar hatte Adrian seinem Gedächtnis stärker misstraut als irgendwelchen Betrügern, denn ich erhielt ohne Schwierigkeiten Zugang.
Ich fand zwei Abbuchungen, von denen ich nichts wusste. Jemand hatte an Geldautomaten im Ausland Geld abgehoben. Einmal am Montag, dem Tag nach Adrians Abreise. Und einmal an dem Freitag davor. Als Adrian noch in Eiderstedt war.
Dhanavati.
Und dann, als ich mir anschaute, welche Internetadressen Adrian außerdem besucht hatte, stieß ich auf ein Diskussionsforum. Es diente offenbar dazu, Geschichten rund um die Figuren einer Fernsehserie zu veröffentlichen – nur ganz oben in der Liste fand ich eine, die offenbar nicht recht hineinpasste. Jedenfalls beklagten sich die anderen Forumsmitglieder darüber. Ich las die Geschichte, las sie noch einmal, druckte sie aus. Las sie immer wieder.
Verfasst war sie von einer Person namens dh.rei.
Am nächsten Morgen rief ich Nilsson an.
DHANAVATI
Sein Telefon war eingeschaltet, doch er nahm nicht ab. Das sechste Summen, das siebte … Ansage. Sie unterbrach und wählte neu. Vier, fünf, sechs …
»Ja?« Kaum mehr als ein Murmeln.
»Wir müssen uns treffen. Zehn Uhr am Dom ist zu spät.«
»Wer ist da?« Rascheln. Dann etwas lauter: »Dhan?«
»Kannst du nach draußen kommen? Jetzt sofort?«
»Dhan? Bist du das? – Weißt du, wie viel Uhr es ist?«
»Zwei Uhr siebenundfünfzig. Komm zur Rückseite des Hotels. Zur Vordertür raus, links, gleich wieder links.«
»Was ist los?« Noch mehr Geraschel.
»Da ist eine Brücke über den Å … «
»Was? Wovon redest du?«
»Eine Brücke über den Fluss!« Zu schrill. Du schreckst ihn ab. »Den Kanal. Hinter deinem Hotel. In zehn Minuten. Kommst du?«
»Was ist los?«
»Bring alle Infos mit, die du hast.« Sie legte auf und schaltete das Telefon aus.
Drei Minuten war es eingeschaltet gewesen. Maximal. Genügte das, um sie zu orten? Genügte das?
Natürlich genügte es. Einmal einschalten, und sie wussten die Funkzelle, und in der Stadt waren Funkzellen nicht groß. Also beweg dich, los, lauf!
Bergab bis zum Åboulevard, dort nach links. Restaurants. Dunkel. Das große Kaufhaus. War es ein Fehler? Hätte sie später anrufen sollen? Erst Geld holen – erst die Stadt verlassen? Sich die Infos per Mail schicken lassen – aber sie lasen ihre Mails! Aber wenn sie ihn überwachten – wenn sie ihn bestochen hatten … Ihr Magen krampfte, die Luft blieb ihr weg, sie lief zu einem Hauseingang, zog sich in den dunkelsten Winkel zurück, lehnte sich an die Betonwand.
So. Atmen. Ruhig atmen. Nein. Ganz ruhig. Sie legte die Hände auf den Magen, erst die verletzte, darüber die heile. Augen schließen. Ruhig, ruhig. Es war still in der Stadt. Vollkommen still. Ganz Århus war still und lauschte … Nein. Ruhig. Du hast einen Plan. Der Plan ist gut. Übersichtlich. Ein Graph mit vier Knoten. Siehst du sie? Da, schau hin. Da ist der erste. Wo du stehst. Fast an der
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