Visby: Roman (German Edition)
Straßen marschierten. Es war eine geschickte Mischung aus Fakten und Lügen. Denn meine erste Reaktion war natürlich, mich zu fragen, worauf in aller Welt Dhanavati sich da eingelassen hatte. Bevor mir die sehr viel wichtigere Frage einfiel, wie Nagel und Schulz die Situation auszunutzen gedachten, standen wir schon vor ihrer Haustür, und Nagel drückte auf die Klingel.
Dhanavati meldete sich sofort. Ich rief meinen Namen ins Mikrophon der Sprechanlage. Eine Sekunde lang blieb es still, dann summte der Öffner.
Wir stiegen ins Dachgeschoss hinauf. Sie wartete an der Tür zu ihrer Wohnung. Man sah ihr an, dass sie enttäuscht war, weil ich nicht allein gekommen war – und leider muss ich sagen, dass mir das peinlich war, denn ich wusste, dass Nagel später Witze darüber machen würde. Ich stellte ihr Schulz und Nagel vor, und Nagel zeigte ihr einen hübsch gestalteten Dienstausweis, der angeblich vom Landeskriminalamt Berlin ausgestellt war.
Sie bat uns herein. Wir setzten uns im Wohnzimmer auf Sofa und Sessel. Nagel riss augenblicklich die Gesprächsleitung an sich und erklärte, dass er und seine Kollegen gegen einen international tätigen Waffenhändler ermittelten. Einen Schweden namens Bengt Eglund, der von Riga aus operierte. Was später in der Nacht geschah, war um vieles schlimmer, aber dies ist der Augenblick, an den ich am wenigsten gern zurückdenke. Der Moment, in dem ihr klar wurde, dass wir in ihren E-Mails geschnüffelt hatten.
Danach würdigte sie mich keines Blickes mehr, sondern wandte sich ausschließlich an Nagel. Genau wie bei unserem Treffen am Dom ließ er sich mit der Einleitung viel Zeit. Zunächst einmal erklärte er ausführlich, wie schwer es war, in Fällen von organisierter Kriminalität an wirklich gesicherte Informationen zu kommen. Er tischte ihr Geschichten über Schweigegebote bei der Mafia, über heldenhafte verdeckte Ermittler und den Wagemut einzelner Zeugen auf – Stoff für mehrere Kinofilme, und zugleich ließ er sie nicht aus den Augen, wartete auf das eine Lächeln, den einen Zwischenruf, der ihm einen Ansatz geboten hätte.
Denn natürlich hatte er vor, Dhanavati als Informantin in Eglunds Organisation einzuschleusen. Nur deshalb hatte er mich dazu überredet, ihn ihr vorzustellen. Die E-Mails zeigten deutlich, dass Dhanavati nichts über Eglund wusste, was man nicht ebenso gut in der Zeitung nachlesen konnte. Aber das interessierte Nagel gar nicht. Er wollte sie nach Riga zu Eglund schicken. Als dessen lange vermisste, endlich wiederentdeckte Tochter. Er wollte diese junge Frau – die schon fassungslos gewesen war, als sie herausfand, dass ihr Computerprogramm zum Schutz vor Biowaffen benutzt werden konnte – als Spitzel gegen einen kriminellen Waffenhändler einsetzen.
Genau in dem Moment, als selbst mir das endlich klar wurde, klingelte mein Handy. Es war Frohnert. Er wollte die Sicherheitsmaßnahmen für ein geplantes IAI -Projekt mit mir durchsprechen, bevor er sich am nächsten Vormittag mit dem potentiellen Auftraggeber traf.
Ich hätte ablehnen müssen. Ihn auf später vertrösten. Aber ich hinkte mental noch immer hinter den Ereignissen her. Nagel zischte mir schon zu, ob ich nicht draußen telefonieren könnte. Zugleich stellte Frohnert komplizierte Fragen, die sich nur nach einem Blick in meine Unterlagen beantworten ließen. Also versprach ich ihm, in zwanzig Minuten zurückzurufen.
Dann ging ich. Niemand versuchte mich aufzuhalten. Dhanavati blickte an mir vorbei. Schulz grinste, als wäre ich von meinem Chef dabei erwischt worden, wie ich mich während der Arbeitszeit auf Institutskosten betrank. Nagel nahm sich nicht einmal fürs Grinsen Zeit. Er konzentrierte sich voll auf Dhanavati.
Mich hätte ihre Haltung längst entmutigt: Sie schien kaum zuzuhören und antwortete auch auf direkte Fragen bestenfalls mit Achselzucken. Inzwischen weiß ich jedoch, dass Nagel glaubte, einen Trumpf im Ärmel zu haben. Einen Vorfall während Dhanavatis Zeit an der Hamburger Uni, die leichtsinnige Aktion einer Betrunkenen, bei der sie sämtliche Server des Rechenzentrums für Stunden lahmgelegt hatte. Die Sache hätte sie fast ihren Doktortitel gekostet, aber sie hatte sich mit den Geschädigten einigen können und war mit einer Verwarnung davongekommen.
Kaum jemand wusste davon. Doch Nagel hatte es herausgefunden – Menschen wie er ziehen immer gut vorbereitet in die Schlacht. Er hatte es herausgefunden, und als Dhanavati nach zweieinhalbstündigem
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