Visby: Roman (German Edition)
Ecke Frederiksgade. Da ist Nummer zwei: die Brücke hinter Lees Hotel. Nummer drei: der Geldautomat. Beim Rathaus, weil du dort am meisten abheben kannst. Nummer vier: der Bahnhof. Der kommt als letzter. Folglich gibt es nur zwei mögliche Pfade: Lee-Bank-Bahnhof oder Bank-Lee-Bahnhof; und die Bank liegt zwischen dem Bahnhof und Lees Hotel.
Und wenn sie dort warteten? Am Bahnhof – vor der Bank – wenn sie Lee überwachten …
Nein. Sie konnten nicht überall zugleich sein. Sie war schnell, sie war leise, das war die Chance – also los!
Sie streifte an den Mauern entlang. Horchte in die Frederiksgade hinein – alles still –, rannte hinüber zur Uferpromenade, rannte und rannte; lautes Dröhnen, als der Holzsteg begann; sie bremste ab, ging langsam weiter, setzte jeden Schritt mit Vorsicht, dicht an der dunklen Glasfassade entlang. Da war endlich die Sankt-Clemens-Brücke, auf hohen Betonpfeilern, über Kanal und Uferwege hinweg. Sie tauchte in die Schatten unter der Brücke, blieb stehen.
Die nächste Brücke war schon die richtige. Die niedrige Fußgängerbrücke dort, keine vierzig Meter entfernt.
Und am anderen Ufer stand jemand. Bewegte sich jetzt. Löste sich aus dem Dunkel zwischen den Häusern und trat auf den erleuchteten Uferweg. Näherte sich vorsichtig der Fußgängerbrücke.
Daunenjacke. Basecap. Kurze Haare. In der Mitte der Brücke blieb er stehen und blickte von Ufer zu Ufer.
Sie trat aus dem Schatten hervor und rief. »Lee!«
Er drehte den Kopf in ihre Richtung. Zögerte, überquerte die Brücke und kam näher. Blickte nicht über die Schulter zurück. Anscheinend rechnete er nicht damit, dass ihm jemand folgte.
Oder er hatte Übung darin, Leute in Fallen zu locken.
Sie waren jetzt fünf Schritte voneinander entfernt. Er blieb stehen. Rundes Gesicht. Der Bart wie mit dem Filzer gemalt. Er sah noch jünger aus, als sie gedacht hatte; sie hatte nie einen Vollprofi erwartet, aber dieses Kindergesicht …
»Dhanavati Reinerts?«
Er grinste. Grinste vor Aufregung. Ein Junge, der sich heimlich nachts aus dem Haus geschlichen hatte. Ein Grinsen aus einer anderen Welt.
Dann bröckelte es weg. Sein Blick sprang zu ihren Beinen hinunter, zu ihrer Hand, wieder zu ihrem Gesicht, und sie sah sich darin gespiegelt; nicht nur die dreckigen Knie, den Verband; die Stelle an der Wange, wo sie an der Regenrinne des Schuppens entlanggeschrammt war; auch die Schreie, der Schlag in den Spiegel; die Finsternis in allen Gedanken; das Zittern, das nicht mehr aufhören wollte. Sie sah, wie er schluckte. Darum kämpfte, lässig zu sprechen.
»Ist was passiert? Du siehst ein bisschen mitgenommen aus, wenn ich das so sagen darf.«
Ist was passiert. Nein, liebes Leanderlein. »Ich habe Ärger mit der Polizei. Wegen Eglund.«
Die richtige Antwort. Sofort blickte er nervös um sich; das war gut; er würde es eilig haben, von hier wegzukommen. Sie wich ins Dunkel unter der Sankt-Clemens-Brücke zurück. Er folgte.
»Der Polizei?« Er sprach leise. »Die dänische Polizei interessiert sich für Eglund?«
»Die deutsche. LKA Berlin.«
Sie hörte sich reden. So sachlich. Hörte sich sogar überlegen: Erzähle ich ihm, dass ich ans LKA nicht glaube? Als hätte jemand anders die Führung übernommen, jemand, der die Rolle beherrschte.
»Was wollen die denn von dir? Woher wissen sie überhaupt von dir und Eglund?« Und als sie nicht sofort antwortete: »Nicht von mir! Falls du das glaubst … «
Auf den Gedanken war sie nie gekommen. »Nein, reg dich ab. Ich bin mit einem der Säcke im Auto aus Deutschland zurückgefahren. Da hat er wohl meine E-Mails gelesen, während ich auf dem Rastplatz auf dem Klo war.«
Nicht gut. Es tat gar nicht gut, von ihm zu reden. Plötzlich stand er vor ihr, so freundlich, lächelnd; hielt sie fest, als ihre Beine nicht trugen, weil das Garagentor zugefallen war; da schlug sie zu. Faust in den Magen. Knie in die Eier. Tritt in die Rippen. Wieder. Wieder. Sie wandte sich ab, zum Pfeiler der Brücke, stemmte die verbundene Hand dagegen. Es half. Schmerz half immer. Sie war wieder hier, am Fluss.
Lee redete. Wie hinter Watte. »Verschlüsseln«, sagte er eben: Er hielt ihr einen Vortrag über den Schutz der Privatsphäre.
»Hör zu«, sagte sie mitten hinein, »lass uns das schnell erledigen, ja? Gib mir, was du an Infos hast, dann geh wieder rein.«
»Spinnst du? Du musst das doch nicht allein ausbaden.«
Fast hätte sie ihn angeschrien. »Wieso nicht? Es ist mein Problem. Und die
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