Visby: Roman (German Edition)
Leute stehen früh genug bei dir auf der Matte. Sie verdächtigen dich nämlich, für Eglund zu arbeiten.« Ja, das erschreckte ihn. Gut so. »Jetzt gib her und halt mich nicht weiter auf.«
Er bewegte sich nicht. Sah sie nur an. Am liebsten hätte sie ihm die Jacke von den Schultern gezerrt und die Taschen durchwühlt. »Mach! Bevor sie uns finden!«
Endlich: Er öffnete die Jacke. »Ich hab’s dir ausgedruckt. Hier.« Er holte einen weißen Briefumschlag hervor. Sie griff danach. Er zog ihn weg. »Du willst doch diesen Eglund nicht jetzt noch kontaktieren?«
Was ging ihn das an? Was, zur Hölle, ging ihn das an? Sie griff noch einmal nach dem Umschlag. Er riss ihn ihr zwischen den Fingern weg; wich vor ihr zurück.
Ruhig, Dhani, ganz ruhig. Wenn du ihn vertreibst, hast du verloren. Sie blieb stehen. Senkte die Stimme. »Ich habe keine Ahnung, wie es weitergehen soll. Vielleicht nehme ich mir einen Anwalt. Dann kann der mit den Bullen verhandeln. Und mit Eglund.« Ja. Das war genau der richtige Tonfall. Ungeduldig, aber keineswegs panisch. Und das Wort Anwalt würde ihn verunsichern. Einem Anwalt gegenüber fühlte sich jeder unterlegen. »Aber eben darum muss ich so viel wie möglich über Eglund wissen. Also gib mir bitte, was du hast.«
Sie streckte erneut die Hand aus. Auffordernd. Nicht drohend.
Er legte den Umschlag hinein.
»Gut. Jetzt pass auf.« Sie schob den Umschlag in die Innentasche der Jacke. »Morgen um zehn gehst du zum Dom wie geplant. Häng eine Weile rum und tu verärgert, dann schreib mir eine böse Mail, weil ich nicht gekommen bin, und schick mir die Rechnung. Ich bezahle, sobald ich kann. Und jetzt geh wieder ins Hotel, ich muss weiter.«
»Wo willst du hin?«
Das würde sie ihm gerade verraten. »Irgendwo abtauchen. Ich weiß noch nicht, wo. Danke noch mal, Lee. Mach’s gut.«
Er wollte antworten; sie wandte sich ab. Nach wenigen Schritten begann sie zu laufen. Am Fluss entlang, wie sie gekommen war. Sie hörte ihn hinter sich noch rufen. »Viel Glück!«, hieß es vermutlich. Sie sah sich nicht um.
Drei Uhr achtzehn. Das Treffen war ihr endlos erschienen, aber es hatte nur Minuten gedauert. Das nächste Ziel war die Bank.
Knoten Nummer drei. Rådhuspladsen. Sie nahm den Weg durch die Christiansgade; immer dicht an den Gebäuden oder den parkenden Autos entlang, um schnell Deckung zu finden, falls jemand vorbeikam; doch es kam niemand vorbei. Es war still. Nur ihre Schritte pochten. Das Laufen fiel leicht, und es tat gut, die Schwärze, die Schreie in ihrem Kopf – alles blieb hinter ihr zurück. An der Vester Allé links, langsamer jetzt. An der nächsten Querstraße in den Schutz der abgeschrägten Hausecke. Der Rathausplatz. Drei Türen weiter die Bank, die Geldautomaten noch vor dem Eingang in der Fassade. Sie stand still und lauschte, lauschte.
Nichts.
Sie ging weiter. Holte das Portemonnaie hervor, legte es in die verletzte Hand, zog mit der anderen die Karte heraus. Der erste Automat. Karte einschieben. Geheimzahl eingeben. Betrag. Knacken, Surren.
Motorengeräusch. Aus der Vester Allé. Ein Auto näherte sich langsam; als würde der Fahrer etwas suchen.
Ruhig, ruhig. Karte nehmen. Geld. Wegrennen? Nein! Sie hockte sich an die Kante des Gehwegs, dicht an ein parkendes Auto. Den Kopf gesenkt, still.
Das leise Singen von Reifen. Es kam näher. Noch näher.
Es zog vorbei. Sie zählte bis fünf und streckte den Rücken. Über die Kühlerhaube des parkenden Autos hinweg sah sie einen dunklen Wagen. Getönte Scheiben. Er bog nach rechts ab. Richtung Bahnhof.
Scheiße.
Was nun? Ungefähr um vier fuhr der erste Zug nach Kopenhagen, aber wenn sie den Bahnhof überwachten …
Überprüf das. Jeder Wichtigtuer fährt ein Auto mit getönten Scheiben.
Sie schob Geld und Karte in die Hosentasche und rannte los; nicht hinter dem Wagen her, sondern quer über den Platz. Zum Rathausgebäude und daran entlang, bis die Grünanlage begann. Hinein ins Dunkle, schneller und noch schneller; ihre Hand fing an zu pochen, aber ihr Brustkorb befreite sich, ihr Nacken schüttelte alles ab; sie lief zwischen Bäumen hindurch, an Rasenflächen vorbei, bis der Weg nach links schwenkte und zu der Straße führte, in die das Auto eingebogen war; an der Einmündung blieb sie stehen.
Park Allé. Hundert Meter bis zum Bahnhof.
Und dort stand der Wagen. Noch in ihrer Straße, vor einer blinkenden Ampel. Vor einer leeren Kreuzung. Die Rücklichter brannten; und jetzt rollte er an, rollte langsam
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