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Visby: Roman (German Edition)

Visby: Roman (German Edition)

Titel: Visby: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Slawig
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schaltete ihn ein, suchte die Musik heraus, die sie vor so wenigen Stunden überspielt hatte, und steckte sich die Stöpsel in die Ohren. Legte die verletzte Hand vorsichtig auf den Oberschenkel.
    I’m going to Carolina in my mind.

ANNIKA
    Nilssons zweiter Besuch fiel auf den Sonnabend, den sechsten Tag nach Adrians Abreise. Nina war mit einer Freundin zum Einkaufen in Tönning: Ich hatte sie praktisch gezwungen hinzufahren. In diesen ersten Tagen ging sie freiwillig nicht aus dem Haus, sie lief beim ersten Klingeln zum Telefon, war zu allen Anrufern kurz angebunden, fast grob, und umschlich mich mit bösen Blicken, wenn ich die Leitung zu lange blockierte.
    Ich tat das Gleiche, wenn sie telefonierte. Und doch redeten wir nicht darüber. Wir waren kein gutes Team in diesen Wochen. Wie oft hatte ich vorher über Eltern gespottet, die glaubten, sie könnten irgendetwas Wichtiges vor ihren Kindern geheim halten, und nun schloss ich Nina von allem aus: Ich erzählte ihr, Adrian sei zu einer Bekannten gefahren, einer Freundin aus seiner Zeit in Schweden, die seine Hilfe brauchte, und werde sich bestimmt melden, sobald er Zeit hatte. Dabei sah ich, dass sie meine Unruhe spürte. Ich hätte genau den Augenblick benennen können, in dem sie anfing, meine Sätze auf versteckte Bedeutungen hin abzuklopfen, und aufhörte, mir zu vertrauen.
    Nilsson klingelte auf die Minute pünktlich, selbst sein größter Feind wird ihm vermutlich nicht nachsagen können, dass er jemals unzuverlässig war. Ich hatte halb damit gerechnet, dass er die beiden anderen mitbringen würde – ja, meinetwegen nennen wir sie Schulz und Nagel – , doch er erschien allein. Ruhig. Höflich. So selbstsicher. Er saß mir am Küchentisch gegenüber, saubere Jeans, teures gebügeltes Hemd, die kurzen Haare gerade so unordentlich, dass es lässig wirkte – und ich sah plötzlich die abgeplatzten Stellen im Anstrich unserer Küchentür, die Flecken auf den alten Fußbodenfliesen, die welken Blätter an der Zitronenmelisse. Menschen, die ihr Leben auf diese offenkundige Art fest im Griff haben, verunsichern mich immer. Es hilft dann nichts, wenn ich mir sage, dass sich hinter der gepflegten Oberfläche alle möglichen Krisen verbergen können. In dem Punkt habe ich oft Adrian beneidet, der solche Dinge gar nicht wahrnimmt, an dem die Herablassung, die ich bei Leuten wie Nilsson spüre, unbemerkt abprallt.
    Wir saßen also da und schwiegen uns an, zwischen uns Kaffeetassen, aus denen keiner von uns trank. So weit reichte seine Höflichkeit nicht, dass er mir den Einstieg erleichtert hätte. Ich suchte sicherlich fünf Minuten nach einem passenden Anfang – bis mir klar wurde, wie lächerlich das war.
    »Ich weiß, wohin Dhanavati gefahren ist«, sagte ich.
    Nichts an seiner Haltung veränderte sich, er beobachtete mein Gesicht und wartete.
    »Wo sie letzten Freitag war. Zwei Tage, nachdem Sie zum ersten Mal hier waren. Ich weiß, was sie da gemacht hat und wohin sie von dort aus fahren wollte.«
    »Aha.« Als ich nicht weitersprach, fragte er betont geduldig: »Und, wollen Sie es mir verraten?«
    »Wenn Sie mir verraten, weshalb Sie sie suchen.«
    Er hob die Augenbrauen. »Das habe ich Ihnen schon verraten. Sie sollte an einem unserer Projekte mitarbeiten, aber sie hat uns versetzt. Das Projekt ist dadurch ins Stocken geraten. Deshalb wollen wir sie ausfindig machen.«
    »Ich weiß, das haben Sie mir erzählt. Aber ich glaube Ihnen nicht.«
    »Meine liebe Frau Otten … «
    Ich sprach laut weiter. »Ich glaube, dass sie in Schwierigkeiten steckt. In großen Schwierigkeiten. Ich will wissen, was passiert ist.«
    Er ließ sich mit der Antwort Zeit. »Und wie kommen Sie darauf? Dass sie ›in großen Schwierigkeiten steckt‹?«
    Ich bin sicher, dass er absichtlich dieselben Worte benutzte wie ich. Und ihnen einen naiven Unterton gab – dass ich mich fragte: Habe ich so geredet? Er führte mir meine Unsicherheit vor, um mich noch stärker zu verunsichern. Er stellte mich als Idiotin hin, damit ich mich wie eine Idiotin benahm. Seine Abneigung war mit Händen zu greifen. Bis heute ist mir nicht völlig klar, worauf sie beruhte – außer dass es natürlich einiges gab, das er sich selbst übelnehmen konnte, und sicherlich war es leichter für ihn, auf jemand anders wütend zu sein als auf sich selbst. Doch damals wusste ich nicht einmal das, ich sah nur, dass er mir keinen Zentimeter weit entgegenkommen wollte.
    »Adrian ist zu ihr gefahren«, sagte ich. »Weil

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