Visby: Roman (German Edition)
Dhanavatis Onkel sprach, gesellte sich ungebeten ein dritter Adrian dazu. Der Adrian, über den ich nichts wusste. Der auf Gotland eine Frau geliebt hatte, die bereits ein Kind von einem anderen hatte. Der sich für ihren Tod verantwortlich fühlte. Der offensichtlich glaubte, an ihrer Tochter etwas gutmachen zu können, was er ihrer Mutter schuldig geblieben war. Der Adrian, den mein Adrian zwanzig Jahre lang vor mir versteckt hatte.
Auch davon erzählte ich Maria. Keinem anderen Menschen gegenüber hätte ich es ausgesprochen. Denn ganz Eiderstedt schien stumm zu sagen: Wir haben es ja kommen sehen. Für alle Menschen in meiner Nähe – für Paula und Maike, meine anderen Freunde, für meine Eltern – war Adrian ein Außenseiter geblieben. Ein Fremder. Und Fremde sind unberechenbar. Maria dagegen hörte nur zu, schweigend und aufmerksam, während wir in Sankt Peter vor der Eisdiele saßen und Nina mit Timo drinnen vor der großen Speisekarte stand und ihm auf Englisch die Eissorten erklärte. Maria hörte zu, den Kopf ein wenig schief gelegt, dachte nach und sagte schließlich in ihrem angestrengten Deutsch: »Aber ist es nicht immer so? Auch von einem Menschen, den man gut kennt, kennt man nur einen Teil.« Sie zögerte und legte mir schließlich eine Hand auf den Arm. »Er ist freiwillig bei dir und Nina. Du hast ihn nie zu etwas gezwungen. Warum willst du dir jetzt einreden, dass es eine Lüge war?«
Doch auch sie und Timo waren letztlich nur nach Eiderstedt gekommen, weil sie sich Sorgen um Dhanavati machten, weil sie wissen wollten, ob wir von ihr gehört hatten. Nachdem ich ihnen erzählt hatte, dass Dhanavati wohl nach Riga gereist war, kehrten sie nach Dänemark zurück, und ich wartete wieder. Ich sah zu, wie Nina ein paar Tage lang innerlich strahlte und mit Begeisterung englische Vokabeln lernte, aber plötzlich damit aufhörte, wie sie die Freude an den Pferden verlor und immer öfter ganze Nachmittage allein in ihrem Zimmer verbrachte, ich sah zu und wartete und tat nichts. Zwei Wochen vergingen, dann kam ein Brief von Nilsson, den ich mit zitternden Fingern öffnete. Er enthielt zwei Zeilen Text auf einem ansonsten leeren Blatt. Keine Unterschrift, keine Anrede, nur: Ich habe mit Frau Reinerts gesprochen. Sie weiß nicht, wo sich Adrian Barnes aufhält.
Wie viel er verschwiegen hat.
Dieser Jens.
Zwei Wochen später schickte er mir unerwartet eine E-Mail mit einem Anhang, in dem er ausführlicher über seine Wiederbegegnung mit Dhanavati schrieb. Auch darin stand nichts über Adrian. Trotzdem hätte ich schon damals erraten können, dass ich mich geirrt hatte, dass Adrian nicht weggefahren war, um Dhanavati zu suchen. Dass sie nicht annähernd so wichtig für ihn war, wie ich geglaubt hatte.
Wäre irgendetwas anders gekommen, wenn ich das früher begriffen hätte? Vielleicht. Ich weiß es nicht. Vielleicht.
Abend in Ljugarn. Niemand ist auf der Straße, nur ein einzelner Radfahrer überholt mich lautlos und verschwindet in einer Einfahrt hinter Hecken. Die meisten Häuser, die ich passiere, sind dunkel, sie stehen verlassen auf ihren Grundstücken, auf feuchten Wiesen, von kahlen Bäumen eingerahmt, umhüllt von Dunst. Das Licht der Straßenlaternen erreicht kaum ihre Holzfassaden, so dass man die Farben mehr errät als erkennt: hellgelb, rot, weiß, hellblau.
Als ich das Hotel betrete, noch gefangen in der Stille, kommt der Besitzer die Treppe zum ersten Stockwerk herunter. Er bleibt stehen.
»Alles in Ordnung?«, fragt er nach kurzem Zögern auf Englisch.
»Ja, vielen Dank.«
Wieder eine Pause. »Möchten Sie vielleicht einen Tee oder Kaffee? Sie sehen aus, als wäre Ihnen kalt.«
Nachdem ich die Frage verstanden habe, bedanke ich mich, und er setzt sich wieder in Bewegung. »Gehen wir in die Küche.«
Nun würde ich doch am liebsten ablehnen: Konversation auf Englisch mit einem Fremden, bei hellem Lampenlicht, dem fühle ich mich nicht gewachsen. Aber er ist schon in dem Durchgang neben dem kleinen Empfangstresen verschwunden. Ich folge ihm in eine große Küche, sie ist warm und voller Düfte. Zimt. Hefe. Zerlassene Butter.
So vertraut. Wie auf dem Reiterhof von Paula und Bernd hat die Küche zwei Gesichter: die eine Hälfte ist auf schnelles Wirtschaften für viele Menschen eingerichtet, die andere dagegen kramig und wohnlich. Ein großer Tisch. Abgeschabte Stuhlkissen. Eine Hängelampe, an der man sich vermutlich ständig den Kopf stößt. Bunte Vorhänge vor den Fenstern.
Mein
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