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Visby: Roman (German Edition)

Visby: Roman (German Edition)

Titel: Visby: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Slawig
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Mal. Dann in die Innenstadt. Zur Fulda hinunter. Wieder zurück. An einer Imbissbude aß ich irgendetwas. Es wurde dunkel. Die Läden hatten längst geschlossen. Die Straßen waren leer. Ein Mann sprach mich an, in gebrochenem Deutsch. Als ich einfach weiterging, kam er mir nach. Ich fing an zu laufen und hörte ihn hinter mir rufen, aber er folgte mir nicht mehr. Ich hatte Mühe, Adrians Wohnhaus wiederzufinden. Als ich endlich davor stand, waren die Fenster dunkel. Niemand öffnete mir.
    Was ich dann gemacht habe, weiß ich nicht mehr. Aber ich muss in dieser Nacht einen Schutzengel gehabt haben, denn irgendwann war ich wieder im Bahnhof, es wurde hell, und am Bahnsteig stand ein Zug nach Berlin. Ich stieg ein, fand ein leeres Abteil, zog die Vorhänge zum Gang zu und schlief ein.
    Ich habe Adrian nie davon erzählt. Als er acht Wochen später abends an meiner Tür klingelte und mir sagte, dass es ihm leid täte, war ich viel zu misstrauisch und verletzt, um ihm so etwas anzuvertrauen. Später dann behielt ich es für mich, um seine Schuldgefühle nicht zu verstärken. Sie schienen ohnehin riesengroß. Er fühlte sich schuldig, weil er mich verlassen hatte – aber auch, weil er mit mir zusammen war. Weil er zugelassen hatte, dass ich mich in ihn verliebte. Weil er mich nicht gewarnt hatte, wie viel Müll es in seinem Leben gab. Das war sein Wort dafür: Müll. Seine vergeudete Jugend. Die missglückte Liebe zu Gisela. Giselas Tod, für den er sich aus irgendeinem Grund verantwortlich fühlte. Seine Unfähigkeit, sich um ihre Tochter zu kümmern, obwohl er es ihr versprochen hatte.
    Ein Gestrüpp. Aus dem er nicht mehr herausfand. In dem ich mich ebenfalls verhakte, wenn ich versuchte, mehr zu erfahren.
    Aber er war zurückgekommen. Daran hielt ich mich von nun an fest. Er war zu mir zurückgekommen, und er blieb. Viele Jahre lang. Er zog nach Berlin, bekam eine Stelle in einem kleinen Betrieb, der alte Möbel aufarbeitete, machte schließlich sogar eine Lehre als Tischler. Er schien glücklich mit dieser Art von Leben, zu der es mich immer stärker hinzog, einem sehr privaten Leben, bei dem die große Welt und auch ein Großteil Berlins zunehmend ausgesperrt wurden. Für mich war er immer noch das wärmende Zentrum meines Lebens, aber ich hatte gelernt, dass es kein stabiles Zentrum war, dass ich für die Stabilität selbst sorgen musste. Als wir uns zum zweiten Mal trennten, war dies der Grund. Ich war schwanger, ich hatte mein Referendariat begonnen und wusste, dass ich danach keine Stelle bekommen würde. Die Mauer war geöffnet, Berlin war deutsche Hauptstadt und bewarb sich um die Olympischen Spiele, überall wurde gebaut. Ich wollte endlich weg aus dieser Stadt.
    Adrian hatte nichts dagegen, aber er stellte sich vor, irgendwo in Griechenland ein altes Segelboot zu kaufen, es zu modernisieren und mit mir und unserem Kind und einer Bootsladung Touristen von Insel zu Insel zu segeln. Ich dagegen wollte nach Hause. Sesshaft werden. Ich hatte begriffen, was mir guttat. Am Ende ging ich ohne ihn.
    Und auch diesmal kam er zu mir zurück. Zunächst nur auf Besuch, für ein paar Stunden, dann mietete er ein Zimmer in Tönning und suchte sich Arbeit, fuhr nach Feierabend zu uns heraus, half mir im Haus und spielte mit Nina. Ein halbes Jahr später zog er bei uns ein. Da waren wir längst wieder ein Liebespaar. Nina stellte ihn überall vor: »Das ist mein Vater.«
    Sieben Jahre ist das her. In all diesen Jahren hat er nie mehr von Gisela und Dhanavati gesprochen. Ich dachte, er hätte das endlich hinter sich gelassen. Ich dachte, ich hätte gewonnen.

Es ist ganz leicht, sie heraufzubeschwören. Sie sitzt dort drüben – am Fuß dieser Felssäule, im schütteren Gras. Sie lehnt sich nicht an. Sie hat die Arme um die Knie geschlungen und raucht eine selbstgedrehte Zigarette. Ihr Blick ist aufs Meer gerichtet, auf den Streifen aus schwarzem Fels zwischen Wasser und Land. Wellen schwappen um flachgespülte Buckel, fließen in Mulden voller Algen und Miesmuscheln und rinnen zurück. Leise. Beiläufig. Unaufhörlich.
    Sie ist umgeben von Türmen aus Kalkstein. Von Meer und Wind und Regen zu Skulpturen geschliffen: schlafende Bären, die Köpfe von Riesen. Grauer Stein, dessen Grau aus der Nähe betrachtet zerflimmert, in Rosa, Türkis, Grün und Gelb, jede Schicht eine andere Farbe, krumm und faltig und von Blasen durchbrochen, unter milchigem, schon dämmrigem Himmel, an einem fremden, stillen Meer.
    Labyrinth. So ist

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