Viscount und Verfuehrer
nicht.
Leitfaden für den vollkommenen Butler und Kammerherrn von Richard Robert Reeves
Massingale House unterschied sich grundlegend von den anderen alten Landsitzen in Devon: Das Herrenhaus litt weder an Hausschwamm noch an qualmenden Kaminen, die Türen klemmten nicht, die Dielen knarrten so gut wie nie, und den Treppengeländern war jede enervierende Wackelei fremd. Kurzum, es war, wie der Butler gern zur Haushälterin sagte, ein sehr stilles Haus.
Abgesehen von Seiner Gnaden natürlich.
Gerade in diesem Augenblick hörte man die laute Stimme des Duke of Massingale durch die schwere Bibliothekstür dröhnen, gefolgt vom unmissverständlichen Klirren einer an die Tür geschleuderten Teetasse.
„Puh! “, sagte der neue Lakai.
Jameson, der Butler, warf dem Mann einen ausdruckslosen Blick zu. Der Butler stand schon seit über fünfzehn Jahren in Diensten des Herzogs und sah es nicht gern, wenn das Personal abschätzige Bemerkungen über die Herrschaft machte. Diese Pflichtübung war einzig und allein den höheren Dienstboten Vorbehalten.
Zum Glück für den Lakaien trat in der Bibliothek nun eine längere Pause ein, während der man auf dem Treppenabsatz leichtfüßige Schritte hörte.
Jameson nahm sofort Habachtstellung an. Mit zornigem Funkeln verwies er die beiden Lakaien an ihren Platz an der Eingangstür. Ohne sich bewusst zu sein, dass ihr Auftreten eine sich entfaltende Szene unterbrochen hatte, kam Lady Elizabeth die Treppe hinunter, wobei sie ein Gähnen unterdrückte. Ihr blondes Haar leuchtete im Schein der Morgensonne. Als sie den Butler erblickte, lächelte sie. „Guten Morgen!“
Sie war mittelgroß und von sanft gerundeter Gestalt, besaß braune Augen mit dichten Wimpern und einen breiten, sinnlichen Mund. Lady Elizabeth war es gewohnt, dass man ihr sagte, sie sehe aus wie ihre Mutter, die verstorbene Schwiegertochter des Herzogs, die einst eine gefeierte Schönheit gewesen war. Da diesem Kompliment stets ein trauriger Seufzer und der inbrünstige Wunsch folgten, Lady Ellens Seele möge in Frieden ruhen, schenkte sie ihm nie allzu viel Beachtung.
Jenseits der Tür zur Bibliothek erhob sich wieder einmal die Stimme des Dukes, begleitet vom trockenen Geräusch einer Zeitung, die in winzige Stücke gerissen wurde.
Lady Elizabeth verzog scherzhaft das Gesicht. „Ach herrje. Weswegen muss Großvater sich denn heute so aufregen?“ Jameson lächelte. Für sämtliche Mitglieder des großen herzoglichen Haushalts war die Enkelin des Duke of Massingale wie ein Sonnenschein, wobei das nicht bedeutete, dass sie in ihren Pflichten als Hausherrin irgendwie nachlässig gewesen wäre. Wie Jameson einmal zur Haushälterin Mrs. Kimble sagte: Wenn Lady Elizabeths Augen diesen gewissen Blick zeigten und ihr Kinn sich in diesem gewissen Winkel in die Luft reckte, hatten Widerworte keinerlei Sinn, egal wie sonnig ihr Lächeln sein mochte. „Mylady, ich fürchte, die Schuld liegt bei der Morning Post. Heute fand sich darin mehr als nur ein bisschen Tory-Begeisterung.“
„Ah, das würde Großvater allerdings in üble Stimmung versetzen.“
Vor der Eingangstür war ein Geräusch zu hören, und der Lakai beeilte sich, die Tür zu öffnen. Herein kam eine schöne rotblonde Dame in einer langen rosa Pelisse und einem modischen, mit Borten besetzten Hut. Sie war klein, kaum fünf Fuß groß, von elfenhaftem Wuchs und mit einem fein geschwungenen Mund gesegnet. Begleitet wurde sie von Lord Bennington, einem großen, dunklen Gentleman mit düsterer Miene und verhülltem Blick.
„Charlotte! rief Beth und küsste ihre Stiefmutter auf die Wange.
Charlotte lächelte. Obwohl sie ein gutes Stück älter als ihre Stieftochter war, sah man ihr das nicht an. Tatsächlich wirkten die beiden Frauen eher wie Schwestern, auch wenn Charlottes Schönheit weniger eindrucksvoll war als die von Elizabeth.
„Beth, es überrascht mich, dich um diese Stunde auf den Beinen zu sehen“, sagte Charlotte mit ihrer weichen Stimme und zog sich die Handschuhe aus. Trotz ihrer sanften Art haftete ihr etwas Panisch-Wildes an, als könnte sie bei der leisesten Aufregung in tausend Stücke zerspringen.
Beth blickte ihre Stiefmutter forschend an, um ihre augenblickliche Stimmung zu erfassen. Gleich darauf entspannte sie sich. Charlotte wirkte an diesem Morgen recht gefasst, ein Umstand, über den sich alle Bewohner im Haus freuen würden.
Beth lächelte ihre Stiefmutter an. „Normalerweise würde ich noch im Bett liegen, doch Großvater
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