Vision - das Zeichen der Liebenden
stammt, und ihm den Weg in die Freiheit geebnet, stimmt’s? Ist das nicht genug Magie?«
»Oh! Kann ich also alles, was ich auf diese Weise…«
»Überleg nicht, wie du es anwenden kannst«, fiel Nieve ihm ins Wort. »Das ist der falsche Weg. Wenn du deine Stimme brauchst, wird sie dir helfen, ganz egal in welcher Situation. Das sollte dir genügen.«
Nach Nieves Unterricht ruhte Alex sich normalerweise in dem kleinen Obstgarten des Palasts aus, egal, wie das Wetter war. Er lehnte sich an einen festen, glatten schwarzen Stein im Gras und versenkte sich in den Anblick der kahlen Äste der Bäume, der Eiszapfen, die an den rotgoldenen Vordächern hingen, und der schneebedeckten Gipfel rings um die grüne Oase. Er konnte sich gar nicht sattsehen an der Schönheit dieser einsamen Bergwelt, an den Adlern, die majestätisch zwischen den Gipfeln in der Höhe ihre Kreise zogen, oder dem Kontrast der schwarzen Äste der Apfelbäume mit dem tiefen Grau des Winterhimmels. Dieser Garten erfüllte ihn mit Frieden, hier tankte er nach den anstrengenden Übungen Energie. Er hatte gelernt, in die Stille einzutauchen und an nichts zu denken, während er die Umgebung auf sich wirken ließ. Anfangs hatte sich sein Kopf, sobald er sich an den schwarzen Stein gelehnt und entspannt hatte, mit Bildern von Jana gefüllt, bis er davon ganz zappelig geworden war. Doch irgendwann hatte er begriffen: Wenn ihm der Aufenthalt bei den Wächtern etwas bringen sollte, musste er lernen, alle Erinnerungen an Jana loszulassen. Es tat weh, nicht mehr an sie zu denken, aber er wusste, dass es die einzige Möglichkeit war, wenn er hierbleiben wollte. Um Jana vor dem Tod zu retten, musste er sich weiterentwickeln. Und dazu musste er sie vorübergehend vergessen und sich auf das Lernen konzentrieren. Es war seltsam, aber sobald er erkannt hatte, dass dies der einzige Weg war voranzukommen, wurde der Verzicht auf seine Erinnerungen an Jana allmählich einfacher.
Schwerer fiel es Alex, den Anblick des verletzten Erik aus seinem Kopf zu verbannen. Er wusste ja nicht einmal, ob sein Freund überhaupt noch am Leben war. Immer wieder tauchte vor seinem inneren Auge die schwarze Wunde auf, die schlaffe, verkohlte Haut und dabei lief es ihm jedes Mal eiskalt über den Rücken. Doch auch hier zeigte der ständige Unterricht Wirkung. Irgendwann konnte er sich mit völlig leerem Kopf zum Ausruhen in den Garten setzen, jede Erinnerung an seine Vergangenheit war in den Hintergrund getreten. Seine Aufmerksamkeit galt nun einzig und allein der Wintersonne auf seiner Haut und dem Anblick der verschneiten Berge, der ihn ruhig und froh machte.
Alex’ Fortschritte hatten viel mit Corvinos Geduld zu tun. Der Rote Wächter, wie die anderen Corvino im Scherz nannten, hatte sich vom ersten Tag an vorgenommen, theoretische Erklärungen zu vermeiden und seinem Schüler mit gutem Beispiel voranzugehen. Wenn Alex in seine Bibliothek ganz oben im Südturm kam, traf er seinen Lehrer häufig dabei an, wie er auf einem Brett voller Nägel lag wie ein Fakir oder mit nassen Haaren zitternd am offenen Fenster stand. Anfangs fiel es Alex schwer, den Sinn dieser unnützen Opfer zu verstehen. War es nicht absurd, dass jemand sich freiwillig allen möglichen Strapazen unterzog, um seinen Geist zu stärken? Nie forderte Corvino ihn in diesen Stunden auf, seinem Beispiel zu folgen. Er bat Alex nur, ihm stumm zuzusehen.
Eines Tages hielt Alex es nicht länger aus. »Was soll das alles? Ich kann mir nicht vorstellen, was es bringen soll, wenn ich dabei zusehe, wie du leidest«, beschwerte er sich, nachdem er entsetzt beobachtet hatte, wie Corvino mit einer Kerze herumspielte und die Finger mehrere Male in die Flamme hielt.
»Ich leide nicht so sehr, wie du meinst«, erwiderte Corvino mit großer Gelassenheit, ohne das Spiel zu unterbrechen. »Vergiss nicht, mein Körper hat sich sehr verändert, ist im Grunde mehr Geist als Körper. Daher ist auch mein Leiden eher seelisch als körperlich.«
»Egal – was habe ich davon, wenn ich dabei zusehe?«
Corvinos Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, wodurch sich für einen Moment das rötliche Schimmern seiner Haut verstärkte. »Es härtet dich ab«, antwortete er. »Du musst lernen, alle deine Gefühle zu beherrschen. Auch die, die du positiv und selbstlos findest. Der Macht der Symbole kannst du nur widerstehen, wenn es dir gelingt, dich von sämtlichen Empfindungen zu befreien, von Freude und Schmerz, aber auch von Hass, Liebe und
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