Vision - das Zeichen der Liebenden
das Liebste ist.«
»Davor habe ich schon Angst. Aber ich kann mich bei meinen Entscheidungen doch nicht von der Angst leiten lassen. Das wäre mit Sicherheit der falsche Weg.«
Nieve nickte. Sie warf ihm einen seltsamen Blick zu.
»Was ist?«, fragte Alex irritiert.
»Nichts. Ich bin nur schon zu lange allein. Seit Hunderten von Jahren denke ich immer wieder an die wenigen glücklichen Momente, die ich mit Arawn erlebt habe. Bevor er sich geopfert hat. Und in all dieser Zeit, in den vielen Jahrhunderten seitdem, bin ich nicht gealtert. Kannst du dir vorstellen, wie einsam ich mich fühle?«
»Ich kann es mir denken«, murmelte Alex und blickte zur Seite.
»Nein, das kannst du nicht«, widersprach Nieve heftig. »Plötzlich tauchst du auf, so anders als Arawn und ihm zugleich so ähnlich, so mutig, jung und attraktiv. Meinst du, es würde mir nichts ausmachen, mit anzusehen, wie du das gleiche Schicksal nimmst? Wie du bereit bist, dich zu opfern, um uns alle zu retten? Allein der Gedanke daran ist mir unerträglich! Ich bin noch Mensch genug, um wegen so etwas zu leiden. Und so hart das auch sein mag: Ich bin dankbar, dass es so ist.«
»Vielleicht habe ich ja doch nicht das gleiche Schicksal wie Arawn«, sagte Alex nachdenklich. »Zwischen ihm und mir gibt es einen grundlegenden Unterschied: Ich hasse die Medu nicht, auch unabhängig davon, was ich für Jana empfinde. Vielleicht muss ich einen anderen Weg gehen als er.«
Nieve schüttelte den Kopf. »Von der Liebe zum Hass ist es nur ein kleiner Schritt, glaub mir: Du bist nicht so gefeit vor dem Hass, wie du meinst. Aber du darfst dich bei dem, was kommen wird, nicht von deinen Gefühlen leiten lassen. In erster Linie muss es dir um Gerechtigkeit und Wahrheit gehen.«
»Willst du damit sagen…«
»Ich will damit sagen: Wenn du dich irgendwann entschließt, gegen die Medu zu kämpfen, dann sollte es nicht aus Hass oder aus Rache geschehen, sondern aus Liebe. Um der Menschheit willen. Und wenn du dich mit ihnen zusammentun willst, dann gilt das genauso. Sonst wird nichts von dem, was du tust, so selbstlos es auch sein mag, eine echte Veränderung bewirken. Dann wird dein Opfer völlig sinnlos sein. Ich weiß, wovon ich spreche. Ich habe es schon so oft erlebt. Und ich hoffe von ganzem Herzen, dass ich es nicht noch einmal mit ansehen muss.«
Kapitel 8
Wenn Alex morgens im Palast der Wächter aufwachte, dachte er als Erstes an seine Mutter und seine Schwester. Er fragte sich, wie es ihnen wohl ging und ob sie ihn vermissten, ohne eine Antwort darauf zu finden. Wahrscheinlich glaubten sie, ihm sei etwas zugestoßen. Vielleicht hielten sie ihn sogar für tot. Er hätte alles darum gegeben, den beiden irgendwie mitteilen zu können, dass sie sich keine Sorgen machen mussten, doch er traute sich nicht, sich damit an seine seltsamen neuen Gefährten zu wenden.
Es waren schon ein paar Tage vergangen, da kam Nieve nach dem Training von selbst auf das Thema zu sprechen. »Mach dir keine Gedanken um deine Familie«, sagte sie aus heiterem Himmel. »Ich habe mit deiner Schwester gesprochen und ihr gesagt, dass es dir gut geht.«
»Du hast mit meiner Schwester gesprochen?«, wiederholte Alex ungläubig. »Was hast du ihr erzählt?«
Nieve konnte lächeln wie ein Engel. »Nur das Nötigste.«
»Was ist denn das Nötigste?«
»Na ja, ich habe ihr gesagt, dass du in Gefahr bist. Und dass wir dich an einen sicheren Ort gebracht haben, um dich vor deinen Feinden zu schützen. Ich habe sie angerufen… Diese Apparate sind so komisch!«
Alex traute seinen Ohren nicht. »Und weiter? Hat sie dir geglaubt?«
»Du vergisst, dass bei mir die Magie in der Stimme sitzt«, erwiderte Nieve vergnügt. »Natürlich hat sie mir geglaubt. Du musst dir also wirklich keine Sorgen mehr machen! Sie wird auch deine Mutter beruhigen. Ich bin sicher, das schafft sie.«
Alex begriff, wie aufmerksam Nieve ihn beobachtet haben musste. Sie hatte ihm helfen wollen, ihn von dem tonnenschweren Ballast zu befreien, den er seit Beginn seines Aufenthalts im Palast der Wächter mit sich herumschleppte und der ihn daran hinderte, sich richtig auf den Unterricht zu konzentrieren. Wenn er bei der Sache war, lernte er schnell und seine Lehrer zeigten sich erfreut über seine Fortschritte. Doch oft war er mit seinen Gedanken zu Hause, bei Jana oder Erik. Dann bekam er nur die Hälfte von dem mit, was sie erklärten – was spätestens dann auffiel, wenn er ihre Anweisungen in die Tat umsetzen sollte
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