Vision - das Zeichen der Liebenden
Mitgefühl. Vergiss das nie.«
Doch Alex war nicht bereit, diese Aussage so einfach hinzunehmen. »Ich will aber gar nicht auf das Mitgefühl und auf die positiven Gefühle verzichten. Ich habe keine Lust, zu einer Art menschlichem Roboter werden.«
»So komme ich dir vor?«, fragte Corvino lächelnd.
»Manchmal schon. Ich verstehe nicht, warum du so unbedingt deine menschliche Seite zerstören willst.«
Corvino runzelte die Stirn. Das Lächeln auf seinen Lippen erlosch. »Der Punkt ist wohl: Wir haben unterschiedliche Vorstellungen davon, was menschlich ist und was nicht. Für dich bedeutet es, zu fühlen. Für mich heißt es, frei zu sein. Und wirklicher Freiheit stehen Gefühle im Weg.« Die Miene des Wächters wurde weicher, als er merkte, dass Alex sich aufrichtig bemühte, seinen Standpunkt zu verstehen. »Es geht nicht darum, für immer auf Gefühle zu verzichten«, erklärte er, »sondern zu lernen, Gefühle und Empfindungen zurückzustellen, wenn die Situation es erfordert. Dadurch wird alles einfacher. Es gibt Zeitpunkte im Leben, da sind Gefühle nur eine Last. Schau mal: Würdest du nicht gern selbst entscheiden, ob und wann du sie ausleben willst, anstatt von ihnen beherrscht zu werden?«
»Schon«, erwiderte Alex skeptisch. »Aber ich glaube einfach nicht, dass das geht.«
»Es geht, das garantiere ich dir. Du musst mir nur vertrauen und das befolgen, was ich dir sage. Ich bin davon überzeugt, dass es dir gelingen kann.«
»Aber dazu müsste ich die Dinge tun, die du tust, oder? Mich auf Nagelbretter legen, mich absichtlich verbrennen…«
»Noch bist du nicht so weit. Fang mit einfachen Übungen an, und wenn du sie beherrschst, nimmst du dir welche vor, die ein bisschen schwieriger sind. Du kannst zum Beispiel erst einmal auf irgendetwas verzichten, was du gern isst, oder einen angenehmen Gedanken aus deinem Kopf verbannen oder eine Stunde länger meditieren, obwohl du müde bist. Du musst selbst entscheiden, welche Übung für dich passt, es nützt nichts, wenn ich sie dir aussuche. So lernst du nach und nach, über deinen körperlichen und seelischen Bedürfnissen zu stehen. Es ist ein langer, schwieriger Prozess, aber die Mühe lohnt sich. Ohne es zu merken, wirst du dich irgendwann frei fühlen, vollkommen frei. Und das, dieses Bewusstsein, ist unbezahlbar.«
Erst durch dieses Gespräch wurde Alex richtig klar, was Corvino ihm eigentlich beibringen wollte, und er begann, erste Fortschritte zu machen. So wie sein Lehrer ihm vorgeschlagen hatte, erlegte er sich kleine Übungen auf und jubelte insgeheim, wenn er sie beherrschte. Nach einigen Wochen hatte er fast mühelos gelernt, Hunger und Durst zu vergessen, sogar wenn er zehn Stunden nichts zu sich genommen hatte, und Schmerzen leichter zu ertragen, etwa, wenn Heru im Kampftraining übers Ziel hinausschoss und er am nächsten Tag mit blauen Flecken übersät war.
Irgendwann fiel Corvino beim Mittagessen auf, dass Alex, ohne eine Miene zu verziehen, Löffel um Löffel eine Suppe aß, die so heiß war, dass er sich die Zunge daran verbrennen musste. Als Alex vom leeren Teller aufblickte, trafen sich ihre Blicke und beide lächelten.
»Sei vorsichtig«, mahnte Corvino ihn an diesem Nachmittag zu Beginn des Unterrichts. »Du hast zwar den Schmerz besiegt, aber nicht den Stolz. Du bist zu zufrieden über deine Erfolge. Meiner Meinung nach ist diese Genugtuung gefährlicher für deine geistige Entwicklung als die Angst, sich an einer heißen Suppe die Zunge zu verbrennen.«
Später am Tag erzählte Alex Argo, was Corvino zu ihm gesagt hatte. Es war in der Meditationsstunde, dem Fach, das Alex mit Abstand am leichtesten fiel. Argo zufolge besaß Alex ein besonderes Talent, seinen Kopf zu leeren und für die Visionen von anderen Orten und Zeiten empfänglich zu machen, eine Gabe, die er zweifellos von seinen kurilischen Vorfahren geerbt hatte.
»Das Problem der Kurilen und der Medu im Allgemeinen ist, dass sie ihre Fähigkeiten immer dazu benutzt haben, mehr Macht zu erhalten, statt sie zum Wohl des Universums einzusetzen«, hatte Corvino ihm erklärt. »Wohlgemerkt, ich habe Universum gesagt, nicht Menschheit. Die Welt dreht sich nicht allein um die Menschen, sie ist sehr viel komplexer und vielfältiger. Unsere Gaben sind dazu da, die Welt zu verstehen, nicht sie zu verändern. Wer anders denkt, wird diesen Irrtum früher oder später mit Zerstörung und Leiden bezahlen.«
Als Alex Argo an diesem Nachmittag von dem Gespräch mit Corvino,
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