Vision - das Zeichen der Liebenden
Klassenzimmer mehr, sondern die Wohnungen der Lehrer. Zu seiner großen Erleichterung fragte keiner seiner Mitschüler, wo er hinwollte. Auf der Treppe konzentrierte Alex sich auf den letzten Rest des Schmerzes, der noch da war. Er klammerte sich regelrecht daran, denn solange er diesen Schmerz spürte, behielt er auch einen Teil der besonderen Sensibilität für seine Umgebung und konnte vielleicht Dinge wahrnehmen, die er ansonsten übersehen würde.
Bald stellte er fest, dass der Schmerz stärker oder schwächer wurde, je nachdem, welche Richtung er einschlug. Es war, als hätte Jana eine Spur hinterlassen, die er mit dem Tattoo wahrnehmen und verfolgen konnte. Hoffentlich führt mich diese Spur nicht zum Turm . Denn das würde bedeuten, dass Jana ihm tatsächlich zuvorgekommen war.
Indem er sich von der Intensität seines Schmerzes leiten ließ, gelangte Alex ans Ende des langen Flurs, von dem die Wohnungen abgingen. Vor ihm in der Wand befand sich eine kleine Metalltür. Als er sie öffnete, stand er auf einer Feuertreppe. Unter ihm lag ein rechteckiger Innenhof, den er noch nie gesehen hatte. Vorsichtig stieg er auf der Feuertreppe nach unten und sah sich um. Die schmalen, hohen Fenster der umstehenden Häuser waren mit Rollläden verschlossen, wahrscheinlich gehörten sie zu einigen der vielen Büros im Erdgeschoss. Eine dicke Schicht Vogeldreck bedeckte den Boden. Es war ein trostloser Hof. Und doch hatte Jana sich vor gar nicht allzu langer Zeit eine ganze Weile hier aufgehalten. Sie hatte genau in der Mitte des Hofs gestanden, das sagte ihm der pochende Schmerz in seiner Schulter.
Am Ende einer Wand entdeckte Alex eine weitere kleine Eisentür, die zu seiner Überraschung nicht abgeschlossen war. Aber noch mehr überraschte ihn, dass Jana diese Tür nicht benutzt hatte. Sie hatte den Hof nicht auf diesem Weg verlassen, sondern kehrtgemacht. Das hieß, entweder hatte sie in diesem Hof gefunden, was sie suchte, oder sie hatte hier aufgegeben.
Alex lief in die Mitte des Hofs zurück. Mit geschlossenen Augen ließ er sich von der gespenstischen Stille dieses Ortes durchdringen, bis sein Kopf ganz leer und alle Gedanken verflogen waren. Das Tattoo schmerzte stärker als zuvor. Irgendetwas passierte mit ihm, etwas, das nicht einmal er selbst begriff. In seinen Ohren rauschte es, hinter den geschlossenen Lidern zuckten Lichtblitze. Das konnte nicht nur mit dem Tattoo zu tun haben. Es war, als hätte er in seinem tiefsten Inneren eine unbekannte Macht geweckt, die sich ihm in diesem Moment zum ersten Mal zeigte.
Er öffnete die Augen. Was sich um ihn herum abspielte, verschlug ihm die Sprache. Die Wände begannen, im reinsten Weiß zu leuchten, die Wasserflecken und der Vogelkot verschwanden. Staunend beobachtete er, wie mit atemberaubender Geschwindigkeit hinter der weißen Farbe der Hauswände von unten nach oben zuerst die blanken Ziegel hervortraten und wie diese dann Reihe um Reihe schrumpften, bis die Wände völlig abgetragen waren. Jetzt kamen einige der ältesten Teile der Schule zum Vorschein und auch ein paar Gebäude, die er nicht kannte. Doch auch dieses Bild veränderte sich weiter. Gleich darauf wuchs um ihn herum eine achteckige Mauer rasend schnell in den Himmel. Sie bildete einen Turm, dessen oberer Teil in eine hohe graue Kuppel überging.
Als die Verwandlung der Umgebung abgeschlossen war, rieb Alex sich verwirrt die Augen. Er fühlte sich benommen, wusste nicht, ob das, was er gerade gesehen hatte, eine Vision war oder Realität. Doch er zwang sich, nicht weiter darüber nachzudenken, und stand auf. An der Wand entdeckte er eine Steintreppe, die nach oben führte. Vorsichtig und ständig in der Angst, das Gleichgewicht zu verlieren und abzustürzen, kletterte er hinauf.
Die Treppe mündete in einen achteckigen Raum, den Alex sofort wiedererkannte. Hier war er in Janas Vision gewesen. Zwei Details stachen ihm ins Auge, die ihm beim letzten Mal offenbar entgangen waren: ein antik aussehender Schachtisch unter dem Fenster und an der gegenüberliegenden Wand eine äußerst merkwürdige Uhr. Unter dem blau und golden bemalten Zifferblatt aus Holz waren mehrere Zahnräder zu sehen, die ineinandergriffen, und von diesem komplexen Mechanismus aus führte ein Stab, auf dem ein Korken saß, nach unten in ein großes durchsichtiges Gefäß mit Wasser.
»Gefällt sie dir?«, fragte eine freundliche Stimme hinter ihm. »Das ist eine Klepsydra. An dieser Wand hat schon immer eine Klepsydra gehangen.
Weitere Kostenlose Bücher