Vision - das Zeichen der Liebenden
gefährlicher Ort, viel gefährlicher, als du es dir überhaupt vorstellen kannst. Allein der Gedanke, dass du dich dort aufhältst, macht mir, wenn ich ehrlich bin, Angst.«
»Ich dachte, es gibt keinen anderen Weg für mich?«
»Dass du die Festung betrittst, wäre die Voraussetzung dafür, dass die Variante der Zukunft einsetzt, die ich gesehen habe. Ein Stein, der ins Rollen gebracht wird. Doch eine Sicherheit ist es nicht. Selbst wenn du es schaffst, in die Festung zu gelangen, gibt es keine Garantie, dass du sie auch wieder lebend verlässt, dass der Stein in die richtige Richtung rollt. Bevor du also die Sache in Angriff nimmst, musst du dir darüber bewusst sein, wie riskant es ist. Dazu kommt noch, dass es die Zukunft, die ich für dich gesehen habe, vielleicht schon längst nicht mehr gibt. Vielleicht hast du dir an dem Tag, an dem das Tattoo entstand, die Möglichkeit verstellt, frei zu sein.«
Alex zuckte die Achseln. »Tja, ich schätze, es gibt nur einen Weg, das rauszufinden. Ich werde diese Festung betreten und tun, was ich kann, um an das Buch zu kommen. Wenn es gut geht, umso besser; wenn nicht, habe ich es wenigstens versucht.«
Eine Mischung aus Stolz und Sorge lag in dem Blick, mit dem Hugo seinen Sohn ansah. »Ich habe erwartet, dass du das sagst.« Er lächelte. »Du bist mutig. Das warst du schon immer.«
»Was muss ich mit dem Buch machen, wenn ich es finde?«
»Ich weiß es nicht.« Hugo schüttelte den Kopf. »Wie gesagt, ich habe nur einen kleinen Teil dieser möglichen Zukunft gesehen. Aber für den Fall, dass es anders läuft, als ich hoffe, muss ich dir unbedingt noch etwas sagen: Irgendwann stößt du bei deiner Suche möglicherweise auf einen leeren Thron. Ich weiß nicht genau, wie er aussieht, in meinen Visionen ist er jedes Mal in ein seltsames Licht- und Schattenspiel getaucht. Du wirst ihn erkennen, sobald du ihn siehst. Und jetzt hör mir gut zu: Es kann sein, dass jemand dich bittet, darauf Platz zu nehmen. Aber Alex: Egal was passiert, setz dich nie, wirklich nie auf diesen Thron. Ich habe gesehen, was dann mit dir geschehen würde. Und glaub mir – es würde dir nicht gefallen.«
»Und wer würde wollen, dass ich mich auf diesen Thron setze? Ober?«
Besorgt beobachtete Hugo die Zeiger der Klepsydra. »Das habe ich nicht gesehen«, sagte er müde. »Es gibt in der Zukunft so viele Möglichkeiten und die Visionen sind so unvollständig. Es tut mir leid, aber das ist alles, was ich dir sagen kann. Ich fürchte, wir müssen uns jetzt verabschieden. Diese Begegnung hat schon länger gedauert, als sie eigentlich dürfte. Unsere Wege werden sich gleich wieder trennen, aber vorher muss ich dich unbedingt noch etwas fragen… Du hast mir gar nichts von Mama und Laura erzählt.«
»Es geht ihnen gut.« Alex hatte plötzlich einen Kloß im Hals. »Aber Mama hat sich sehr verändert, seit du… du weißt schon – seit du nicht mehr da bist. Musstest du uns wirklich verlassen? Gab es keinen anderen Weg?«
Hugo schloss die Augen. Er seufzte tief, als würde er gegen einen unerträglichen Schmerz ankämpfen. »Wie kann ich mich ans Leben klammern, wenn ich weiß, dass die einzige akzeptable Zukunft für dich eine ist, in der ich tot bin? Sag Mama, dass ich sie sehr liebe. Dass ich es kaum aushalte zu wissen, dass ich ihr so wehtun musste. Nein, warte! Sag ihr lieber nichts. Es würde nur alte Wunden aufreißen.«
»Hat sie nie erfahren, wer du wirklich bist?«
»Nein, sie hat keine Ahnung von dieser düsteren Welt, der Erik und Jana angehören. Und das ist auch besser so, Alex. Deine Mutter ist fürs Licht geschaffen. Was auch immer passiert, vergiss nie, dass du auch ihr Sohn bist und dass genau das dich so besonders macht: deine menschliche Seite. Denk immer daran.«
Ein lautes, trockenes Knistern war zu hören, und als Alex den Kopf hob, sah er einen langen Riss, der über die Decke wanderte und sich schnell in eine Vielzahl immer feinerer Risse verzweigte.
»Ich muss nach Hause zurück«, sagte Hugo lächelnd. »In der Zeit, in die ich zurückkehre, bist du zehn Jahre alt, vor einigen Minuten hast du mich gebeten, dir bei den Hausaufgaben zu helfen. Ich hab dich lieb, Alex. Vergiss das nie. Und gib Laura einen Kuss von mir.«
Ehe Alex etwas erwidern konnte, begann die Klepsydra zu schwanken. Wie beim ersten Mal setzte der Zeitraffer ein, diesmal allerdings in umgekehrter Richtung. Panisch lief Alex die Treppe hinunter. Innerhalb von Sekunden zerfiel der Turm vor seinen
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