Vision - das Zeichen der Liebenden
musste es von enormer Bedeutung sein, wenn es zusammen mit dem Schwert und dem Stein in Janas Vision auftauchte.
Es war das Buch, von dem sein Vater gesprochen hatte: das letzte Buch der Kurilen. Seinetwegen war er hier! Alex hatte es sofort erkannt – genau wie Hugo es ihm prophezeit hatte. Zugleich begriff er, dass das unscheinbare Äußere des Buches nichts zu bedeuten hatte. Das alte Buch stand in Wirklichkeit für etwas viel Mächtigeres, etwas, das kein Bild zum Ausdruck bringen konnte.
Demnach konnte der junge Mann mit dem traurigen, nachdenklichen Gesicht niemand anderes sein als Zephyr, sein Vorfahre. Der letzte Kurilen-Prinz.
Die drei Gestalten rührten sich nicht, während der Wind ihre Kleider und den Sand zu ihren Füßen aufwirbelte. Sie sahen sich nicht an, schienen sich der Gegenwart der beiden anderen nicht einmal bewusst zu sein. Jeder konzentrierte sich ausschließlich auf seinen Gegenstand: Agmar auf den blauen, funkelnden Stein, Drakul auf das Schwert und Zephyr auf das Buch.
Irgendwann begann die Frau, die Lippen zu bewegen. Sie schien eine rituelle Formel aufzusagen, denn plötzlich wurde der Wind stärker, peitschte den Sand vom Boden auf und hüllte alle Anwesenden in einen dichten rötlichen Wirbel. Feine Sandkörnchen spritzten Alex ins Gesicht, sodass er erneut die Augen schließen musste. Als er sie wieder öffnete, waren die drei Gestalten verschwunden. An ihrer Stelle stand Jana. Sie war über und über mit Sand und Staub bedeckt und hielt die rechte Hand ausgestreckt, obwohl sie sich kaum auf den Beinen halten konnte. Augenblicklich brach ein ohrenbetäubender Tumult unter den Anwesenden aus: Auf Janas flacher Hand funkelte der Stein aus der Vision. Der blaue Sarasvati-Saphir.
»Sie hat ihn«, brüllte Ober ungläubig. »Pertinax, was für ein falsches Spiel hast du getrieben?«
Sofort sprang der Greis auf, sein Gesicht war wutverzerrt und er fuchtelte wild mit den Armen. »Das ist nicht fair! Sie hat gegen die Regeln verstoßen! Der magische Gegenstand verleiht ihr einen klaren Vorteil gegenüber meiner Tochter. Ich verlange, dass der Zweikampf sofort abgebrochen wird!«
Als Antwort auf die Forderung des Alten begann Aranox, rötlich zu schimmern. Pertinax ließ sich auf seinen Stuhl fallen, plötzlich spiegelte sich Angst in seinem Gesicht.
»Der Zweikampf ist im Gange und wird nicht abgebrochen«, dröhnte Ober mit seltsam unnatürlicher Stimme und ohne die Lippen zu bewegen. Alex erkannte, dass es in Wirklichkeit Aranox war, das durch den Anführer der Drakul sprach. »Der Ausgang ist ungewiss. Die Unterschiede werden sich ausgleichen«, fuhr die Stimme fort. »Urd und ihre Schwestern teilen sich ein und dasselbe Bewusstsein und ein und dieselben Fähigkeiten. Sie mögen sich zusammentun. So ist die Gerechtigkeit wiederhergestellt.«
Alex lief ein Schauer über den Rücken. Seine Kehle fühlte sich an wie ausgetrocknet. Seit er ein Kind gewesen war, hatte ihn nichts mehr so gegraust wie die Verwandlung, deren Zeuge er nun wurde.
Noch bevor die Stimme zu Ende gesprochen hatte, gingen Urds Schwestern auf sie zu, mit steifen, unnatürlichen Schritten wie Roboter, und alle drei fielen sich in die Arme. Bald waren ihre Lippen, ihre Hände und ihre Haare nicht mehr voneinander zu unterscheiden: Die drei Körper schoben sich übereinander, bis sie einen einzigen bildeten. Es war ein schrecklicher Anblick, denn durch Urds runde blaue Puppenaugen starrten jetzt auch ihre beiden gefangenen Schwestern.
Jana hatte Urds Verwandlung beobachtet, ohne sich von der Stelle zu rühren. Die Anstrengung der Vision war ihr noch anzusehen, aber sie schien die Macht ihrer Gegnerin nicht zu fürchten.
»Die Zukunft«, zischten drei hohle, gleichförmige Stimmen aus Urds Mund.
Sie ließ ihre Arme langsam auf und ab schweben, sie kreisten, als übte sie einen uralten Tanz. Mit jeder Bewegung verdreifachten sich Urds Arme und Beine und gaben für einen Moment die gefangenen Gliedmaßen ihrer Schwestern frei. Sie sah aus wie ein Fabelwesen, wie eine indische Gottheit. Alex schüttelte sich vor Angst und Ekel; nur mit Mühe gelang es ihm, weiter hinzuschauen.
Bald wurde klar, dass Urd mit diesem haarsträubenden Tanz eine ganz bestimmte Absicht verfolgte. Mit jeder ihrer Bewegungen lockte sie den blauen Sarasvati ein paar Zentimeter weiter von Janas flacher Hand auf sich zu, ohne dass diese etwas dagegen tun konnte. Als der Saphir sich genau in der Mitte zwischen ihnen befand, blieb er reglos in
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