Vision - das Zeichen der Liebenden
ihnen gelang es in diesem Moment zu verbergen, was sie fühlten: Verwirrung, Panik, Angst.
Ober, der als einziger gefasst wirkte, brach das erschütterte Schweigen. »Nichts dauert ewig«, sagte er mit belegter Stimme.
Glaukos drehte sich zu ihm um. Seine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. »Wohl wahr. Aber es ist tröstlich zu wissen, dass in Hunderten von Jahren, wenn wir alle nicht mehr da sind, unsere Gebäude noch existieren werden, und sei es als Ruinen«, kommentierte er fast fröhlich.
Jana wankte zum Tisch, stützte sich mit beiden Händen darauf ab und sah die Klanführer verächtlich an. »Seid euch da nicht so sicher«, sagte sie zitternd vor Zorn. »Diese Zukunft ist viel näher, als ihr denkt… Viel, viel näher.«
Erik wollte aufstehen und zu ihr gehen, doch Ober hob warnend die Hand.
»Der Zweikampf ist noch nicht zu Ende.« Pertinax sah seine Tochter Urd an, die ein Stück vom Tisch entfernt stand. Sie wirkte völlig ruhig. »Es fehlt noch das Wichtigste von allem: die Gegenwart.«
Als Urd dieses Wort hörte, durchlief sie ein Schauer. Für einen kurzen Moment schien es, als würden sich die drei Schwestern wieder voneinander lösen. Doch schon im nächsten Moment lächelte die junge Frau mit dem Puppengesicht, machte drei Schritte auf Jana zu und wiederholte singend wie ein kleines Mädchen: »Die Gegenwart.«
Abrupt verwandelte sich die Kinderstimme in ein tiefes, monotones Brummen, das immer stärker anschwoll. Der Gesang stieg in unbeschreiblicher Geschwindigkeit eine imaginäre Tonleiter hinauf, bei jedem Ton flackerten die Gesichter der drei Schwestern reihum auf, bevor Urd zum nächsthöheren Ton wechselte. Je höher sie sang, desto mehr verzerrte sich ihr Gesicht und desto monströser wirkten ihre Züge.
Nach ein paar Sekunden war der Klang unerträglich schrill. Alex hielt sich die Ohren zu, aber es nützte nichts: Das ohrenbetäubende Geheul hallte in seinem Kopf weiter.
Als Urd beim höchstmöglichen Ton angelangt war, trennten sich die Schwestern plötzlich. Alle drei stießen gleichzeitig ein schreckliches Kreischen aus, das dreimal so laut war wie der vorige Ton.
Dieser Schrei ließ alles erzittern, den Tisch, die Fensterscheiben und die Anwesenden. Der Saphir, der immer noch auf halbem Wege zwischen Jana und den Drillingen schwebte, zerbarst in tausend tiefblaue und nadelspitze Splitter, die auf Jana zuschossen. Die Zeit schien zu gefrieren und mit ihr alle Bewegung im Raum. Wie gelähmt stand Jana da und starrte auf die gleißenden Saphirsplitter, sie schien unfähig zu sein, sich zu bewegen. Schon in der nächsten Sekunde würden die winzigen Geschosse sie direkt im Gesicht treffen. Alex schrie auf, lang gezogen und hohl, zu seiner Überraschung klang es fast wie das schreckliche Heulen der Drillinge.
Seltsamerweise schienen auch die Splitter verwirrt. Für einen Augenblick, einige Zehntelsekunden nur, vibrierten sie unentschlossen in der Luft, doch es reichte, um Jana aus ihrer Benommenheit zu wecken. Das zeitliche Vakuum, das Urds Gesang erzeugt hatte, löste sich auf und Alex sah, wie Jana mit einer schnellen Handbewegung eine Art silbernen Kringel in die Luft malte, der vor ihr in der Luft schwebte. An diesem Lichtschild prallten die Splitter ab, sie teilten sich in drei Ströme, die umkehrten und nun auf die Drillinge zuschossen.
Bevor diese reagieren konnten, war alles vorbei. Die Splitter hatten sich auf magische Weise wieder zum Sarasvati zusammengefügt, dabei aber die drei Schwestern aufgesogen und für immer in sich eingeschlossen.
Reglos schwebte der Saphir in der Luft, blauer und reiner denn je. Im Sitzungssaal war es totenstill. Nur Pertinax, der auf dem Tisch zusammengebrochen war, schluchzte gedämpft.
»Vielleicht war es das Beste für sie.« Mitfühlend sah Lenya den Alten an.
»Ja… vielleicht«, stieß Pertinax hervor.
»Der Zweikampf ist zu Ende.« Ober stand auf. Die Augen in seinem leichenblassen Gesicht wirkten leer, wie tot. »Almas Tochter hat gesiegt.«
Alle Anwesenden wandten sich Jana zu. Auf ihrem Gesicht lag ein Lächeln, als ihre Beine nachgaben und sie ohnmächtig zu Boden sackte.
Kapitel 4
Alex sprang auf und wollte zu Jana, aber Erik hielt ihn am Ellbogen zurück. »Lass sie, es geht ihr gleich wieder gut«, sagte er, ohne ihn loszulassen. »Du hast ihr schon genug geholfen.«
Verständnislos sah Alex seinem Freund ins Gesicht. Er spürte, dass Erik den Griff um seinen Arm ein wenig lockerte. »Geholfen?«, fragte er
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