Vision - das Zeichen der Liebenden
Pertinax teilt meine Meinung.«
»Ich will nicht voreilig sein«, warf der Alte nervös ein. »Die Tatsachen werden für sich sprechen… Aber eins steht fest: Wer den Stein hat, ist mächtiger als jemand, der ihn nicht hat. Ich schlage vor, dass eine meiner Töchter sich mit Almas Tochter misst. Beide sollen uns nacheinander ihre Visionen vorführen. Diejenige, die größere Meisterschaft in der Beherrschung der Magie zeigt, wird die rechtmäßige Nachfolgerin der letzten großen Agmar-Zauberin werden… und die rechtmäßige Besitzerin des Steins.«
Jana starrte Pertinax wütend an. Einen Moment lang wirkte es, als würde sie ihre so sorgfältig bewahrte Fassung nun doch verlieren und ausrasten.
»Willst du behaupten, meine Mutter wollte deine Töchter als ihre Nachfolgerinnen? Diese Ungeheuer?«, zischte sie. »Willst du das ernsthaft behaupten?«
Der Greis zuckte mit den Schultern. »Ich verstehe, dass du gekränkt bist, Mädchen, aber so ist es nun mal. Ich wollte es bisher nicht öffentlich machen, um unserem Klan nicht zu schaden, aber dein Hochmut geht einfach zu weit. Wenn du den Stein hättest, hättest du ihn längst benutzt, zum Beispiel, um uns gegen die Varulf zu unterstützen. Aber das konntest du nicht. Weil du ihn gar nicht hast!«
»Wer hat ihn denn dann? Deine Töchter?«, unterbrach Jana ihn.
Pertinax lächelte geheimnisvoll. »Dazu will ich jetzt nichts sagen«, erwiderte er mit einem Seitenblick auf die Drillinge. »Die Visionen werden für sich sprechen.«
Damit war für Ober die Diskussion beendet. Er stand auf und hob beide Arme. »Dann mögen die Visionen nun sprechen«, sagte er feierlich. »Der Zweikampf wird auf folgende Weise ausgetragen: Jede von euch wird, wenn sie an der Reihe ist, die mächtigste Vision zeigen, die sie herbeirufen kann. Als Erstes eine Vision der Vergangenheit, als Zweites eine der Zukunft und als Drittes eine der Gegenwart. Die Visionen der Gegenwart sind am schwierigsten zu beherrschen, sie bedürfen sehr mächtiger Magie. Während des Rituals werden uns die Gesänge der Drakul-Zauberer vor den Wächtern schützen. Wenn eine von euch gegen die Regeln verstößt, wird das Schwert Recht sprechen und den unredlich erworbenen Vorteil zunichtemachen.«
Ein plötzlicher beißender Schmerz in der Schulter ließ Alex zusammenzucken. Er drehte sich nach Jana um. Sie war aufgestanden und schien sich ganz auf das Schwert zu konzentrieren. Alex spürte stärker denn je, dass sie durch das Tattoo miteinander verbunden waren. Er richtete seine ganze Aufmerksamkeit auf Janas faszinierendes Gesicht und versuchte, ihre Gedanken zu lesen.
Da hörte er mit einem Mal ihre sanfte Stimme in seinem Kopf. Hab keine Angst. David hat ein Fluchtportal vorbereitet, falls etwas schiefgeht . Alex lächelte sie an. Jana schien die Wärme, die in diesem Lächeln lag, zu spüren, denn sie drehte ihm den Kopf zu und lächelte ebenfalls. »Ich bin bereit.« Entschlossen blickte sie die Drillinge an.
»Ich auch«, erwiderte Urd, der Drilling mit den schwarzen Haaren, mit ihrer ausdruckslosen, toten Stimme.
Die beiden jungen Frauen stellten sich am Ende des Tisches einander gegenüber auf. Kurioserweise war Pertinax’ Tochter trotz ihrer grotesken kindlichen Proportionen genauso groß wie Jana. Und noch etwas stach Alex ins Auge: Zwischen diesem leeren Puppengesicht und Janas ausdrucksstarken Zügen bestand eine bemerkenswerte, unheimliche Ähnlichkeit, die jetzt, wo die beiden so dicht beieinanderstanden, kaum zu übersehen war.
Einige Minuten lang war in dem großen verglasten Saal nichts zu hören als der fremdartige Gesang aus der dunklen Leere, in die Alex nicht noch einmal hineinsehen wollte. Seine Schulter schmerzte immer noch, aber zugleich wurde er auf einmal erstaunlich ruhig. Es war, als sende Jana ihm über das Tattoo ein geheimes Zeichen: Es wird alles gut gehen. Angesichts von Pertinax’ selbstgefälliger Miene und Obers ironischem Lächeln blieb Alex jedoch skeptisch.
Plötzlich durchbrach Urds tonlose Stimme das gespannte Schweigen: »Die Vergangenheit«, sagte sie und hob die rechte Hand zur Decke.
Ihr Gesicht fing an, sich zu verzerren, bis es sich in eine furchterregende Maske verwandelt hatte, ihr Atem ging jetzt schnell und stoßweise, mit jedem Atemzug stieß sie ein gequältes, schrilles Pfeifen aus. Dann erschien auf ihrer Brust ein blauer Fleck. Während er sich auf dem Kleid ausbreitete, begann er zu leuchten, zunächst schwach, dann immer strahlender, bis
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