Vision - das Zeichen der Liebenden
gern sehen, wie Jana arbeitet.«
»Jana gefällt dir, oder?«
Das war eine sehr direkte Frage. Also musste die Antwort es auch sein.
»Ziemlich, ja.«
Ein verlegenes Schweigen trat ein, das David nutzte, um ein halbes Dutzend Skizzenhefte einzusammeln, die auf dem Boden verstreut lagen.
»Vielleicht kann ich sie dazu überreden, ein Tattoo für dich zu entwerfen«, sagte er, während er die Hefte auf den Tisch legte.
Alex hatte sich in einen roten Ledersessel fallen lassen und verfolgte aufmerksam, was David tat.
»Darüber würde ich mich freuen.«
»Ich gehe mal nachsehen, ob sie schon fertig ist. Die Kunden mögen es nicht, wenn sie warten müssen, und speziell dieser ist ziemlich ungeduldig. Du kannst dir ja so lange die Bücher ansehen, wenn du willst. Jana kommt bestimmt gleich.«
Alex nickte und hob zum Abschied kurz die Hand. Ohne die Geste zu erwidern, blieb David einen Moment auf der Türschwelle stehen und musterte ihn aufmerksam. Beim Hinausgehen zog er die Tür sanft hinter sich zu.
Alex stand auf, er lief ein paar Schritte im Raum herum, um sich zu entspannen. Irgendetwas an David hatte ihn nervös gemacht. Er wusste selbst nicht, warum. Eigentlich war er ziemlich höflich gewesen, sogar ganz nett… Vielleicht lag es an dieser irritierenden Selbstsicherheit, die Janas Bruder älter wirken ließ, als er war. Er redete und bewegte sich, als wüsste er immer genau, was er tat und worauf er hinauswollte, während er sein Gegenüber gleichzeitig spüren ließ, wie sehr er bezweifelte, dass es bei ihm auch so war.
Um sich abzulenken, schaute Alex sich die Regale an. Sie waren angefüllt mit den verschiedensten Büchern, überwiegend zu philosophischen und ethnologischen Themen. Daneben standen aber auch prächtige alte Ausgaben der großen Klassiker und zahlreiche wunderschön illustrierte Kunstbände. Er zog ein Buch mit dem Titel Altarbilder der Renaissance aus einem der unteren Regale und blätterte darin . Eine Schicht Seidenpapier schütztejede einzelne Abbildung und bildete einen eigenartigen Kontrast zu dem dicken Glanzpapier darunter. Viele der Altarbilder befanden sich nicht in Museen oder berühmten Kirchen, sondern in kleinen Gotteshäusern in der europäischen Provinz, wo Vernachlässigung und Schlampigkeit der Behörden zu ihrem fortschreitenden, unabwendbaren Verfall beitrugen. So stand es zumindest in der Einleitung.
Als Alex den schweren Band an seinen Platz zurückstellte, fiel ihm ein anderes, genauso dickes, aber offensichtlich wesentlich älteres Buch ins Auge, auf dessen in Leder gebundenem Rücken unter dem Titel ein goldenes Segelschiff mit drei Masten prangte. Überrascht kniete Alex sich vor das Regal. Dieses Symbol hatte er irgendwo schon einmal gesehen. Und plötzlich fiel ihm auch ein, wo: auf einem alten Buch seines Vaters. Im selben Moment schoss ihm das Bild durch den Kopf: sein Vater, der den dicken Wälzer mit dem goldenen Segelschiff auf dem Rücken genau in dem Moment zuklappte, als er, damals acht oder neun Jahre alt, schreiend in sein Arbeitszimmer gestürmt war. Komisch, dass er sich noch so genau daran erinnerte. Irgendetwas an der Szene musste sich ihm nachhaltig ins Gedächtnis gebrannt haben. Vielleicht der angespannte Gesichtsausdruck, mit dem der Vater das Buch hastig zur Seite gelegt hatte, als sein Sohn ihn überrascht hatte… Doch es schien nicht genau das gleiche Buch zu sein. Um ganz sicherzugehen, zog Alex den Band aus dem Regal und strich nachdenklich über den Einband. Ja, das grüne Leder fühlte sich ähnlich glatt an, aber in dem Buch seines Vaters ging es um Astronomie, um die Art und Weise, wie die Sternbilder in den frühen Hochkulturen gedeutet wurden. Dieses hier trug den Titel Sagen und Traditionen der keltischen Völker . Ein seltsames Detail fiel ihm auf: Das goldene Segelschiff hatte am Heck eine halbmondförmige Scharte, eine Kleinigkeit, die ihm auch schon bei dem Buch in seiner Erinnerung ins Auge gestochen war. Alex wusste nicht viel über Buchdruckverfahren, aber vielleicht waren ja beide Segelschiffe mit demselben beschädigten Stempel auf dem Einband geprägt worden. Neugierig suchte er auf den ersten Seiten des Buchs nach dem Erscheinungsdatum. Januar 1887 in Venedig. Das war seltsam, denn das Buch war gar nicht auf Italienisch verfasst. Alex nahm sich vor nachzusehen, wann und wo das Astronomiebuch seines Vaters gedruckt worden war.
Im Flur näherten sich Schritte und er richtete er sich auf, ohne den alten Band über die
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