Vision - das Zeichen der Liebenden
Vorraum, wo ein ziemlich interessantes Bild meiner Urgroßmutter hängt… Das Studio liegt genau gegenüber.«
»Bist du dann dort?«
»Ja. Wir wecken Jana auf und nach dem Frühstück machen wir uns an deinen keltischen Knoten. Schlaf gut! Hoffentlich hast du keine Angst vor Gespenstern…«
Alex hörte David kichern, während er durch den Flur davonging. Er knipste fast sofort das Licht aus.
Vom Fenster sah man in den kleinen Garten der Villa. Alex öffnete es, wobei es ihm erst beim dritten Versuch gelang, auch die hölzernen Fensterläden zu entriegeln. Der Stamm der Palme, die ihm schon von draußen aufgefallen war, ragte direkt vor dem Zimmer gerade und biegsam in den Himmel. Der Wind spielte mit den langen, knisternden Palmwedeln und in der Ferne waren das Tosen des Meeres und das Rauschen der Autobahn zu hören. Alex lehnte sich hinaus und blickte in den Himmel. Wie eine silberne Sichel hing der Mond dort oben. Er atmete ein paarmal tief durch, streckte sich, streifte die Turnschuhe ab und legte sich angezogen aufs Bett. Er war bei Jana zu Hause! Jana hatte ihn geküsst! Und schon in wenigen Stunden würde er sie wiedersehen. Er würde sie um ein Tattoo bitten, das ihn sein Leben lang an diese sonderbare Nacht in der Antigua Colonia erinnern sollte… Bei diesem Gedanken lief ihm ein Schauer über den ganzen Körper. Er dachte an Janas große, ernste Augen, ihre weichen Lippen, ihre kleinen Fingernägel, und einen Moment lang stellte er sich vor, wie diese Fingernägel eine Art Blume mit runden Blütenblättern auf seinen Rücken malten und sich dabei immer tiefer in seine Haut bohrten, bis es wehtat.
Er hatte sich noch nie ein Tattoo stechen lassen und nicht die geringste Ahnung, was das für ein Gefühl sein würde.
Über diesem Gedanken schlief er ein.
Kapitel 4
Als er am nächsten Morgen das Zimmer verließ, stieg ihm der Duft von Kaffee und Toast in die Nase. Mit den Fingern kämmte er sich die feuchten Haare nach hinten, dann ging er zur Treppe. Unten war es kühler als im oberen Stock. Durch die Küchentür ergoss sich klares, kühles Sonnenlicht in den Flur. Alex lief weiter, bis zu dem Vorraum, den David ihm beschrieben hatte, wo er das Bild von Janas und Davids Urgroßmutter fand. Staunend blieb er stehen. Das Gemälde zeigte eine junge Frau mit kurzen Haaren. Sie war nackt – wenn man einmal von einem Schultertuch in den wildesten Farben absah – und saß mit dem Rücken zu einem Fenster. Und sie sah genauso aus wie Jana. Wenn David gestern Abend nicht etwas anderes behauptet hätte, hätte Alex geschworen, vor einem Porträt von Jana zu stehen. Das Bild, das im Stil an Matisse erinnerte, wirkte wertvoll. Jana und David schienen offenbar sehr daran zu hängen, sonst hätten sie es sicher längst verkauft.
Als Alex hinter sich ein Geräusch hörte, fuhr er erschrocken herum, als sei er bei etwas Verbotenem ertappt worden. Doch es war niemand zu sehen. Alle drei Türen, die von dem Vorraum abgingen, waren verschlossen. Eine unterschied sich von den anderen beiden durch ein verstaubtes Oberlicht, durch das Morgenlicht einfiel. Rechts davon hing ein ovaler Spiegel ohne Rahmen.
Alex stellte sich davor. Unwillkürlich verzog er das Gesicht zu einem spöttischen Grinsen. Er hatte schon mal besser ausgesehen. Selbst die Tatsache, dass er geduscht hatte, änderte nichts daran, dass er sich in seinen zerknitterten Klamotten, die von der Party gestern noch nach Rauch stanken, schmuddelig vorkam und dass sein aschfahles Gesicht den Grauschleier der Wände um ihn herum zu spiegeln schien. Schnell wandte er den Blick wieder ab und klopfte an die Tür, die genau gegenüber dem Bild lag. Als sich nichts rührte, drückte er die Türklinke nach unten und ging hinein.
Der Raum war stark abgedunkelt, es dauerte eine Weile, bis sich seine Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten. Dann jedoch traf ihn fast der Schlag: Er hatte sich in der Tür geirrt! Das hier war nicht Davids Studio. Er stand in einem Schlafzimmer. Und auf dem Bett schlief ein splitternacktes Mädchen.
Sie hatte ihm den Rücken zugedreht, aber auch so wusste Alex sofort, dass es Jana war. Ihre langen kastanienbraunen Haare lagen ausgebreitet auf dem Kopfkissen und ließen ihr Profil kaum erkennen, ihr Brustkorb hob und senkte sich sanft und regelmäßig wie bei einem kleinen Kind. Das zu ihren Füßen zusammengeknüllte Leintuch schien sich in dem Kettchen um ihren Knöchel verfangen zu haben. Und auf dem Rücken glitzerte vom
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