Vision - das Zeichen der Liebenden
diesem Augenblick konnte Alex die Gestalt zum ersten Mal deutlich sehen. Er erstarrte – das war kein Mensch! Im Gegenlicht war das Gesicht nicht mehr als ein unscharfer Schemen, aber der ganze Körper schimmerte golden und aus dem Rücken wuchsen zwei riesige gleißend helle Flügel.
»Tut mir leid, dass es so weit kommen musste, Hugo«, sagte das Wesen sanft. »Ich kann dich noch retten, die Verletzung selbst ist nicht tödlich. Aber du solltest nicht mehr allzu lange warten. Spürst du, wie du ganz langsam verblutest? Bald ist es zu spät… Der blaue Stein, Hugo! Kannst du mich hören? Sag mir, wo er ist, dann stoppe ich die Blutung. Das ist deine einzige Chance…«
Der Kopf von Alex’ Vater zuckte auf dem Boden hin und her, einmal nach links, einmal nach rechts. Es war ein unmissverständliches Zeichen: Hugo schüttelte den Kopf. Er weigerte sich mit allerletzter Kraft, mit seinem Mörder zusammenzuarbeiten.
Erbost breitete das Geschöpf die Flügel aus – wunderschöne Flügel, majestätisch und doch zart. Hunderte von offenen Augen starrten dem Verwundeten ins Gesicht. »Du begehst eine Riesendummheit, Hugo! Und du lässt mir keine Wahl. Es gibt keine andere Lösung. Du spielst schon zu lange mit dem Feuer, und wenn wir dich nicht stoppen, brennst du noch alles nieder.«
Alex wusste, dass er etwas tun musste. Irgendwie musste er dieses Ungeheuer verjagen und seinen Vater retten, so absurd das Ganze auch schien. Aber es war, als hätte er die Gewalt über seinen Körper verloren. Ein stechender Schmerz verhinderte jede Bewegung. Reglos lag er in seinem Versteck, verurteilt zum stummen Beobachter. Er kam sich vor wie in einem Traum, aber zugleich war das, was er sah, so real, dass er sich ihm nicht entziehen konnte.
Gemächlich schritt das Wesen um Hugo herum, wobei es ein rhythmisches Zischen und Fauchen von sich gab. Nach einer Weile konnte Alex in dem schrecklichen Geräusch Wörter ausmachen. Er verstand ihre Bedeutung nicht, aber seine Lippen formten sie fasziniert nach, lautlos, wie unter Zwang. Jedes dieser rätselhaften Wörter bohrte sich wie eine Nadel in Hugos Körper und entriss ihm ein Stück Leben.
Das unheimliche Ritual dauerte so lange, dass Alex irgendwann jedes Zeitgefühl verlor. Endlich verstummte der Geflügelte. Er betrachtete sein Werk. Hugo atmete nicht mehr. Das Ungeheuer holte aus und trat ihm mit aller Kraft in die Rippen.
Keine Reaktion. Alex wollte schreien, aber über seine Lippen kam kein Laut. Er hatte nicht die geringste Kontrolle über seinen Körper, spürte ihn nicht einmal mehr. Er war in seinem eigenen Traum gefangen.
Da tat das Ungeheuer etwas sehr Seltsames: Mit einer überraschend menschlichen Bewegung zog es eine Pistole aus den Falten seiner Tunika, zielte auf Hugos rechte Schläfe und drückte ab.
Alex spürte, wie er in eine tiefe Ohnmacht glitt. Wieder öffnete er den Mund, um zu schreien. Ein schier unmenschlicher Ton löste sich aus seiner Kehle, hoch und kristallklar und so durchdringend, dass er sogar ihm selbst unerträglich war.
Der Schrei fuhr wie ein Messer in die Vision und zerfetzte sie in tausend Stücke. Das Letzte, was Alex sah, war das ausdruckslose, gleichgültige Gesicht des Mörders seines Vaters, bevor die leuchtenden Splitter nach und nach erloschen wie die Glut eines ersterbenden Feuers und es um ihn herum wieder stockdunkel wurde.
Zweites Buch – Der Verbannte
Kapitel 1
Noch bevor Alex die Augen aufmachte, wusste er, dass er sich in einem Krankenhaus befand. Der unverkennbare Geruch nach Alkohol, Desinfektionsmittel und Hühnerbrühe stach ihm in die Nase wie ein böses Omen.
Als sich seine Lider voneinander lösten, mussten sich seine Pupillen erst an das Herbstlicht gewöhnen, das durch die nicht besonders saubere Fensterscheibe hereinfiel.
Nach und nach kehrte das Gespür für seinen Körper zurück. Er spürte das raue Laken an seinen nackten Beinen, den Druck der Matratze in seinem Rücken, den unbequem hohen oberen Teil des Bettes, der ihn daran hinderte, aufrecht zu sitzen, aber auch, flach zu liegen, die Kanüle in seinem rechten Handrücken, die über einen Schlauch mit einer Infusion verbunden war, und natürlich den Schmerz. Einen heftigen Schmerz in der Schulter, dort, wo David das Tattoo gestochen hatte.
Ehe er sich bewegen konnte, war jemand an sein Bett getreten und in der Hast gegen den Metallständer gestoßen, an dem die Infusion hing. »Alex, endlich! Hörst du mich? Sag doch was! Wie geht’s dir?«
Es
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