Vision - das Zeichen der Liebenden
Klassenzimmern. Gerade wurden die Viertklässler aufgerufen.
Alex hielt es nicht länger aus. Vorsichtig streckte er die Hand nach Janas seidigem Haar aus, doch sie drehte sich hastig weg.
»Nicht«, bat sie eindringlich. »Bitte. Du hast es versprochen.«
»Ich weiß. Du brauchst Zeit. Du willst Abstand.« Alex machte langsam ein paar Schritte auf sie zu. Ihre Gesichter waren jetzt nur noch wenige Zentimeter voneinander entfernt. »Neulich, nachts bei dir zu Hause hatte ich aber einen ganz anderen Eindruck.«
Ihm war klar, dass er gegen ihre Abmachung verstieß, aber er konnte nicht anders. Er musste sie berühren. Eine Sekunde, nur eine einzige Sekunde lang.
Jana rutschte an der Mauer nach unten, versuchte zu entwischen, aber er war schneller, legte die Hände rechts und links von ihr auf die Steine und fing sie ein. Sie würde ihn schon berühren müssen, um ihm zu entkommen.
»Ich will dich nicht erschrecken, Jana«, sagte er sanft. »Ich will dir nur zeigen, dass du mir wichtiger bist als alles andere. Die Magie und das Tattoo sind für mich kein Hindernis, nicht einmal die Schmerzen, die ich spüre, wenn ich bei dir bin. Meine Gefühle sind stärker als all das.«
»Du verstehst überhaupt nichts!« Jana zitterte. Alex konnte nicht anders, er versuchte, sie zu küssen. Doch im letzten Moment drehte sie ihr Gesicht von ihm weg.
»Hör zu, Jana.« Jetzt zitterte er auch, aber es war ihm egal. Ihm war inzwischen alles egal. »Ich werde nichts tun, was du nicht willst. Wenn ich dich nicht küssen soll, dann sag es mir einfach. Sieh mir in die Augen und sag’s mir. Dann lasse ich dich in Zukunft in Ruhe, das verspreche ich dir.«
Er konnte spüren, wie sich immer mehr neugierige, verwunderte Blicke in seinen Rücken bohrten.
Quälend langsam drehte Jana ihm ihr Gesicht zu. Sie war leichenblass. Ihre Blicke trafen sich. »Tu’s nicht, Alex. Bitte tu’s nicht…« Ihre Stimme war nicht mehr als ein Hauch.
»Ich soll dich nicht küssen?«
Sie schlug die Augen nieder.
Das war die Antwort, auf die er gewartet hatte. Sein Körper bebte, als er sich vorbeugte und ganz zart Janas Lippen berührte.
Wieder brach das Inferno los. Aber diesmal loderte das Feuer nicht nur außen, auf seiner Haut, sondern auch in ihm, in seinem Kopf. Gefräßige, grelle Flammen, die alles verschlangen, und zwar so schnell, dass schon nach wenigen Augenblicken nur noch Asche und Finsternis übrig waren.
— * —
Er befand sich in einem großen achteckigen Raum mit Holzdielen, die mit der Zeit dunkel geworden waren. Weit weg, hinter den Steinwänden konnte er das Rauschen des Windes in den Bäumen hören. Oder vielleicht war es auch sein eigener Atem, den er hörte. Er war nicht sicher.
Er lag auf dem Boden, seitlich, mit angezogenen Beinen. Seine linke Wange war schon ganz taub vom Druck der abgenutzten Dielen. Direkt über ihm, wenige Zentimeter von seiner Schulter entfernt, hing ein rechteckiger schwarzer Schatten. Es dauerte mehrere Sekunden, bis er begriff, dass er unter einem Bett lag, in einem Raum, den er eingerahmt vom welligen Saum der Tagesdecke und dem Boden wahrnahm.
Wenige Meter vor ihm lag jemand starr auf dem Boden. Obwohl er das Gesicht der Person nicht sah, begriff Alex sofort, dass es sein Vater war. Hugos Arme und Beine standen in seltsamem Winkel vom Körper ab. Er schien verletzt zu sein oder vielleicht sogar tot. Unter ihm schimmerte ein komplexes Geflecht aus roten und blauen Linien, Zeichnungen, die mit Kreide oder etwas Ähnlichem auf den Boden gemalt worden waren.
Alex’ erster Impuls war wegzulaufen. Er hatte keine Ahnung, wo er war und wie er hierher kam, aber alles in ihm schrie danach, so schnell wie möglich von diesem Ort zu verschwinden. Er wollte sich gerade auf den Bauch drehen, um unter dem Bett hervorzukriechen, als er merkte, dass sich noch jemand in dem Raum befand. Eine Gestalt, die vor der Wand auf und ab lief und von Zeit zu Zeit das blaue Rechteck des Fensters verdunkelte. Eine Gestalt, die keinen Schatten warf.
Die Minuten verstrichen langsam und ereignislos, einzig der Schattenlose bewegte sich hin und her, blieb mal am Fenster stehen, dann wieder ging er schnell, ja sogar hektisch. Irgendwann beugte er sich über den reglosen Körper und verharrte in dieser Haltung, fast so starr wie sein Vater. Als habe er auf ein bestimmtes Zeichen gewartet, begann er plötzlich, das wehrlose Bündel am Boden fieberhaft abzutasten und in den Taschen und den Falten der Kleider zu wühlen.
In
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