Visionen Der Nacht: Der Geheime Bund
wirklich so einfach.
Kaitlyn biss sich auf die Lippen, weil sie wusste, dass es durchaus nicht so einfach war. Ein Teil von ihr war beeindruckt und erleichtert, dass Gabriel ein Auto besorgt hatte. Sie wäre wohl ohne größere Gewissensbisse damit weggefahren, wenn sie keine Angst gehabt hätte, erwischt zu werden. Ein Auto wäre etwas Verlässliches und Beruhigendes, ein Anker gegen Entwurzelung und Heimatlosigkeit.
Aber Rob würde das nie zulassen. Lieber Rob. Lieber ehrbarer Rob, ein absoluter Sturkopf, der einen wahrlich zur Verzweiflung bringen konnte mit seiner Ehrbarkeit.
Gabriel fixierte Rob herausfordernd und bleckte die Zähne. »Und was ist mit dem alten Mann? Du glaubst doch nicht etwa, dass er aufgibt, oder? Er hetzt uns die Polizei auf den Hals, vielleicht auch noch ganz andere Typen. Er hat eine Menge Freunde, beste Verbindungen. «
Das stimmte. Kaitlyn fielen die Unterlagen wieder ein, die sie in Mr. Zetes’ geheimen Büro gesehen hatte. Es waren Briefe von Richtern dabei gewesen, von Konzernchefs und Regierungsmitgliedern. Da hatten ganze Listen mit den Namen wichtiger Leute herumgelegen.
»Wir müssen weg hier, und zwar schnell«, sagte
Gabriel. »Und das bedeutet, dass wir einen fahrbaren Untersatz brauchen.« Er starrte Rob in die Augen. Keiner von beiden war bereit nachzugeben.
Das wird sich zu einem handfesten Kampf auswachsen, dachte Kaitlyn und sah Anna hilfesuchend an. Anna hatte sich gerade das rabenschwarze Haar gebürstet. Besorgt erwiderte sie Kaitlyns Blick.
Wir müssen sie beruhigen, sagte sie.
Ich weiß, erwiderte Kaitlyn. Aber wie?
Wir brauchen eine andere Lösung.
Kait fiel keine andere Lösung ein. Doch dann hatte sie einen Geistesblitz.
Marisol, dachte sie.
Marisol. Die Forschungsassistentin am Institut. Sie hatte schon für Mr. Zetes gearbeitet, ehe er Joyce eingestellt hatte, war in seine Pläne eingeweiht gewesen und hatte versucht, Kaitlyn zu warnen. Mr. Zetes hatte ihr daraufhin Medikamente verabreicht. Seither lag sie im Koma.
Mit wachsender Erregung sprach sie es laut aus. »Marisol!«
Immerhin lenkte sie damit Rob und Gabriel von ihrem Duell ab.
»Wie bitte?«, fragte Rob.
Kaitlyn sprang auf die Füße. »Ist doch klar: Wenn es überhaupt jemanden gibt, der uns helfen kann, der uns glauben wird … und wir sind in Oakland. Ich bin
mir sicher, dass Joyce gesagt hat, Marisol käme aus Oakland.«
»Kait, beruhige dich. Was willst du …«
»Ich will damit sagen, dass wir Marisols Familie besuchen sollten. Sie wohnt hier in Oakland. Wahrscheinlich schaffen wir das zu Fuß. Und die könnten uns helfen, Rob. Sie würden die ganze schreckliche Sache verstehen.«
Die anderen starrten Kaitlyn mit offenem Mund an. Ihnen dämmerte, was sie meinte.
»Da könntest du recht haben«, murmelte Rob.
»Vielleicht hat ihnen Marisol sogar etwas über uns erzählt, nichts Genaues, aber sie könnte Andeutungen gemacht haben. Sie hat immer gern Andeutungen gemacht«, erklärte Kait. »Und ihre Familie ist bestimmt verzweifelt darüber, was geschehen ist. Da haben sie eine tüchtige Tochter, etwas griesgrämig vielleicht, aber absolut gesund, und eines Tages fällt sie einfach so ins Koma. Glaubt ihr nicht, dass denen das merkwürdig vorkommt?«
»Das kommt darauf an«, sagte Gabriel. Er schien sich um seinen Streit mit Rob betrogen zu fühlen. »Wenn sie Medikamente genommen hat …«
»Joyce hat behauptet, dass sie Medikamente genommen hat. Ich bin nicht geneigt, Joyce auch nur ein Wort zu glauben, du etwa?«
Kaitlyn reckte das Kinn in die Luft, und zu ihrer
Überraschung trat ein Hauch von Belustigung in Gabriels graue, kalte Augen.
»Jedenfalls ist es die einzige Chance, die wir haben«, warf Lewis ein, der zu Optimismus neigte. Er lächelte, und seine dunklen Augen blitzten unternehmungslustig. »Dann hätten wir wenigstens ein Ziel. Und vielleicht bekommen wir dort auch etwas zu essen. «
Anna band ihr langes Haar zu einem Pferdeschwanz zusammen und stand anmutig auf. Kaitlyn sah, dass die Sache entschieden war. Zwei Minuten später waren sie bereits auf der Straße und suchten nach einer Telefonzelle. Kaitlyn kam sich ungepflegt vor und ihr war etwas flau im Magen – sie hatte seit dem Mittagessen am Vortag nichts mehr zu sich genommen. Trotzdem fühlte sie sich überraschend fit.
Die Straße lag jetzt verlassen da, und obwohl die eingezäunten Gebäude bei Tageslicht nicht weniger heruntergekommen aussahen als in der Nacht, wirkte das Viertel doch ein wenig
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