Visionen Der Nacht: Der Geheime Bund
nickte.
»Und wir müssen sehen, dass wir aus diesem Bundesstaat wegkommen«, sagte Gabriel. »Hier werden die Bullen überall nach uns suchen. Wenn wir erst einmal in Oregon sind, können wir es etwas ruhiger angehen lassen. «
Kaitlyn fürchtete schon, dass Rob einen Streit vom Zaun brechen würde. Sie war sich nicht sicher, wie Rob und Gabriel gerade miteinander auskamen. Doch er zuckte nur die Schultern und brummte friedlich: »Na gut.«
Lewis raschelte mit der Karte. »Am schnellsten kommen wir auf der Interstate 5 voran«, sagte er. »Ich
sage dir, wie du hinkommst. In Oregon sind wir wahrscheinlich trotzdem erst bei Einbruch der Dunkelheit. «
»Wir können alle paar Stunden einen Fahrerwechsel machen«, sagte Kaitlyn. »Oh, und versucht auszusehen, als machten wir einen Schulausflug oder so etwas, zumindest bis ein Uhr. Die Leute finden es vielleicht komisch, wenn während der Schulzeit ein Van voller Teenager durch die Gegend fährt.«
Während der Fahrt änderte sich ständig die Landschaft. Erst war sie sandfarben und flach, mit dürrem Gras und hier und da einem graulila Busch am Straßenrand. Je weiter sie nach Norden kamen, desto hügeliger wurde das Gelände. Es gab kahle Laubbäume und staubig grüne Nadelbäume. Kait betrachtete das alles mit dem Auge der Künstlerin und nahm schließlich ihr Skizzenbuch zur Hand.
Es kam ihr vor wie eine Ewigkeit, seit sie das letzte Mal gezeichnet hatte. Dabei war die letzte Kunststunde in der Schule erst vierundzwanzig Stunden her. Doch das Leben, das sie gestern noch geführt hatte, schien Jahre her zu sein. Die Ölkreiden liefen glatt über das feine Papier, und Kaitlyn entspannte sich merklich. Sie brauchte das.
Sie betrachtete die Berge in der Ferne und skizzierte die Umrisse mit der Breitseite der Kreiden. Genau das gefiel ihr an diesem Material: Wenn sie eine
Idee hatte, konnte sie sehr schnell damit arbeiten. Sie füllte die Umrisse mit kräftigen Strichen aus, und schon nach wenigen Minuten war das Bild fertig.
Das war nur eine Übung gewesen. Sie blätterte um und suchte sich kühle Farben heraus: Hellblau und ein eisiges Blassviolett, ein giftiges Grün und ein bläuliches Lila.
Ohne dass sie es bewusst geplant hätte, entstand unter ihren Händen ein Bild.
Kaitlyn war es gewohnt, ihre Finger in solchen Momenten laufen zu lassen, während sie ihren Gedanken freien Lauf ließ. Sofort schweiften sie zu Gabriel ab.
Sie musste mit ihm reden, und zwar bald. Sobald sich eine Gelegenheit unter vier Augen ergab. Etwas stimmte ganz und gar nicht. Sie musste herausfinden, was es war.
Entsetzt sah Kaitlyn, was sie da gemalt hatte.
Gabriel. Nicht das in starken Schwarz-Weiß-Kontrasten gehaltene Porträt, wie sie sich ihn immer vorgestellt hatte, sondern eine Gestalt, die sich aus einem dichten Gewebe farbiger Linien abhob. Es war unbestreitbar Gabriel …
… und mitten auf der Stirn erstrahlte in einem kalten Blauton sein drittes Auge.
Es schien sie unheilvoll anzustarren. Plötzlich wurde Kaitlyn schwindelig. Sie hatte das Gefühl, als werde sie gleich in das Bild hineinstürzen.
Sie zuckte zurück, und der Sog verschwand wieder, aber es lief ihr eiskalt den Rücken hinunter.
Hör auf damit, sagte sie sich. Ein Bild vom dritten Auge ist nichts Besonderes. Immerhin ist Gabriel übersinnlich veranlagt, oder etwa nicht? Und das Auge ist nur eine Metapher für diese Veranlagung. Sie hatte auch sich selbst schon mit einem dritten Auge gezeichnet.
Trotzdem – es fiel ihr schwer, sich zu beruhigen. Tief in ihrem Innern wusste Kaitlyn, dass das Bild etwas Schlimmes vorausdeutete.
Stimmt was nicht?
Das war Rob. Als Kaitlyn vom Labyrinth der Farben aufblickte, sah sie, dass alle Augen auf sie gerichtet waren. Gabriel hatte sich auf dem Beifahrersitz umgedreht, Lewis und Anna auf ihrer Bank.
Robs besorgte Augen waren im Rückspiegel zu sehen.
Während sie gezeichnet hatte, hatte sie das Netz vollständig vergessen, hatte nicht einmal die Anwesenheit der anderen gespürt. Aus der allgemeinen Verwirrung entnahm sie, dass auch sie ihre Gedanken nicht gehört hatten, sondern nur merkten, dass Kait innerlich aufgewühlt war.
Interessant, dachte sie. Beim Malen kann ich also meine Gedanken abschotten. Oder vielleicht liegt es an der Konzentration?
Unterdessen antwortete sie Rob: Nein, nein, ich habe nur gemalt.
Rob war beunruhigt. »Eine Vorahnung?«, fragte er laut.
Nein … Ich weiß es nicht. Es war schrecklich, nein, es war schlicht unmöglich, im
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