Visionen Der Nacht: Der Tödliche Bann
ein Schlafzimmer – gewissermaßen. Eigentlich erinnerte es Kait mehr an ein Obdachlosenheim. Nein, es war noch schlimmer, dachte sie. Es sah aus wie in einem dieser Abrissgebäude, die man manchmal im Fernsehen sah. An eine Wand hatte jemand die Worte »KEINE ANGST« gesprüht. Die Gardinen waren heruntergerissen, und eins der Erkerfenster hatte einen Sprung. In der einen Wand klaffte ein großes Loch, ein weiteres in der Tür.
Im Zimmer herrschte Chaos. Auf dem Boden lagen ein Motorradhelm und rot-weiße Leitkegel, Kleidungsstücke waren über sämtliche Möbel verstreut, und überall standen Tassen mit Zigarettenstummeln herum. Im Teppich klebten Asche, Kekskrümel und Kartoffelchips. Einfach alles war total versifft. Kaitlyn fragte sich, wie sie es geschafft hatten, das Zimmer in so kurzer Zeit so verkommen zu lassen.
Ein Junge in Boxershorts stand gerade auf. Er war groß und schlaksig, sein Haar so kurz, dass es nur als Schatten zu sehen war, und seine Augen blickten dunkel, böse und verschlagen. Ein Skinhead?, fragte sich Kaitlyn. Er sah aus wie einer, den man als Auftragsmörder anheuerte. Sein Geist fühlte sich an wie der des Rothaarigen.
»Schakal Mac«, flüsterte Lydia. »Eigentlich heißt er John MacCorkendale.«
Die Augen eines Schakals, dachte Kaitlyn, das stimmt.
Der andere war jünger, etwa in Kaitlyns Alter. Seine Haut hatte die Farbe von Milchkaffee, sein Körperbau war eher klein und drahtig, das Gesicht schmal und scharf geschnitten. Dank der Brille auf der Nase wirkte er nicht so hart wie sein Kumpan. Ein kluger Junge, der gründlich verdorben worden ist, dachte Kait. War er der Kopf der Truppe? Über seine Stimmung konnte sie sich kein klares Bild machen.
»Das ist Paul Renfrew, Renny«, flüsterte Lydia – und duckte sich. Schakal Mac hatte einen Springerstiefel Größe 46 nach ihr geworfen.
Kaitlyn, die sich ebenfalls geduckt hatte, tauchte wieder auf – und erstarrte. Der große Kerl stürmte wild gestikulierend auf sie zu.
»Was hast du hier verloren? Was willst du?«, knurrte er ihr direkt ins Gesicht.
Um Himmels willen, dachte Kaitlyn. Er hat sich die Zunge gepierct. Mit einem Metallbolzen oder so etwas.
Auch Renny war auf den Gang gekommen, leicht wie ein Spatz, einen aufgekratzt-bösartigen Ausdruck im Gesicht. Er tanzte um Kaitlyn herum und packte eine Strähne ihres Haars.
»Aua, das brennt!«, rief er. »Aber die Rundungen sind
okay.« Er fuhr mit der Hand über Kaitlyns Hinterteil. »Ich mag es lieber, wenn was dran ist.«
Kaitlyn reagierte, ohne nachzudenken. Sie wirbelte herum und klatschte Renny die flache Hand auf die Wange. Seine Brille verrutschte.
»Tu das nie wieder«, zischte sie durch zusammengebissene Zähne. Jede einzelne widerliche Erfahrung, die sie mit Jungen erlebt hatte, war auf einmal wieder da. Jungs mit großen plumpen Händen und einem breiten, sabbernden Grinsen im Gesicht. Sie zog den Arm zurück und holte zu einer weiteren Ohrfeige aus.
Schakal Mac packte ihr Handgelenk von hinten. »Hey, eine Kämpferin! Das gefällt mir.«
Kaitlyn entwand ihre Hand seinem Griff. »Du hast noch gar nichts gesehen«, erklärte sie und warf ihm ihr wölfischstes Grinsen zu. Das war keine Schauspielerei, sondern echt und kam von Herzen.
Beide Jungs grölten, obwohl sich Renny noch die Wange rieb.
Kaitlyn machte auf dem Absatz kehrt. »Komm, Lydia, schauen wir uns mal die anderen an.«
Lydia, die sich am Treppenabsatz zusammengekauert hatte, richtete sich auf und ging schnell zur zweiten Tür, die Joyce kurz vorher geöffnet hatte. Es war das Zimmer, das sich Rob und Lewis früher geteilt hatten.
Die Tür war angelehnt, und Lydia stieß sie auf. Kaitlyn machte sich innerlich auf weitere Zerstörungen gefasst.
Sie wurde nicht enttäuscht. Anstelle der Vorhänge, die ebenfalls heruntergerissen waren, verhängten schwarze Tücher das Fenster. Auf die Kommode tropfte Wachs von einer brennenden schwarzen Kerze, und auf dem Spiegel prangte ein auf dem Kopf stehendes, mit Lippenstift gezeichnetes Pentagramm. Zeitschriften lagen aufgeschlagen auf dem Boden, und, wie nicht anders zu erwarten, waren im ganzen Zimmer Kleidungsstücke und Abfall verstreut.
Auf jedem der beiden Betten saß ein Mädchen.
»Laurie Frost«, stellte Lydia das eine vor. Vor den Mädchen hatte sie anscheinend nicht so viel Angst. »Frost, das ist Kaitlyn …«
»Die kenn ich schon«, sagte das Mädchen spitz und stand auf. Ihr blondes Haar war noch heller als das von Joyce, nur
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