Visionen Der Nacht: Der Tödliche Bann
im langen Mantel.
»Hast du etwas Interessantes gefunden?«, fragte Mr Zetes. Er schwang den Spazierstock mit dem goldenen Knauf in der rechten Hand.
Oh Gott. Das Summen war wieder da. Sie konnte nicht antworten, konnte sich auch nicht bewegen, obwohl ihr Herz so heftig hämmerte, dass der ganze Körper von dem Rhythmus erschüttert wurde.
»Du wüsstest wohl gerne, was da drin ist?«
Sag doch etwas, du dumme Ziege. Sag etwas, irgendwas.
Ihre trockenen Lippen bewegten sich mechanisch. »Ich … nein. Ich … ich wollte nur …«
Mr Zetes betrat das Zimmer und schaltete das Licht an. »Mach schon, sieh es dir ruhig an«, sagte er.
Doch Kaitlyn konnte den Blick nicht von seinem Gesicht abwenden. Als sie den Mann zum ersten Mal gesehen
hatte, hatte sie ihn als geradezu aristokratisch empfunden. Das weiße Haar, die edel gebogene Nase, die stechenden dunklen Augen – er hatte ausgesehen wie ein englischer Earl. Und wenn hin und wieder ein grimmiges Lächeln über sein Gesicht gehuscht war, war sie sich sicher gewesen, dass sich dahinter ein Herz aus Gold verbarg.
Doch die Erfahrung hatte sie gelehrt, dass er anders war.
Seine Augen hielten Kaitlyn mit fast hypnotischer Kraft fest. Sie bohrten sich in ihren Geist, nagten daran. Sie hatte das Gefühl, als ginge eine stärkere telepathische Kraft von ihm aus als von Gabriel. Seine gelassene, aber herrische Stimme schien in ihrem Blutkreislauf widerzuhallen.
»Natürlich willst du es sehen«, sagte er, und Kaitlyns Kehle verschloss sich, ehe sie widersprechen konnte. Er ging gemessenen, aber festen Schrittes auf sie zu. »Sieh ihn dir an, Kaitlyn. Es ist ein sehr stabiler Faradayscher Käfig. Sieh nur.«
Obwohl sie es nicht wollte, drehte Kaitlyn den Kopf.
»Es ist ja nur natürlich, dass du dich dafür interessierst – und wissen willst, was da drin ist. Hast du schon mal hineingesehen?«
Kaitlyn schüttelte den Kopf. Da sie ihm nicht mehr in die Augen sah, fand sie ihre Sprache wieder, zumindest in Ansätzen. »Mr Zetes, ich wollte nicht …«
»Joyce hat mir gesagt, dass du zurückgekehrt bist, um
dich uns anzuschließen.« Mr Zetes’ Stimme war rhythmisch, fast beruhigend. »Das hat mich sehr gefreut. Du hast großes Talent, weißt du, Kaitlyn. Und einen starken und neugierigen Verstand.«
Während er sprach, schloss er den Stahlschrank auf und zog am Griff. Kaitlyn brachte vor Angst keinen Ton heraus. Bitte, dachte sie. Bitte, ich will es nicht sehen, lass mich einfach gehen.
»Und jetzt wollen wir deine Neugier befriedigen. Geh nur hinein, Kaitlyn.«
Er zog die Stahltür auf. Drinnen haftete eine einzelne, batteriebetriebene Lampe an der Wand. Sie gab genügend Licht, dass Kaitlyn sehen konnte, was sich im Schrank befand.
Es war nicht der Kristall, sondern eine Art Tank aus dunklem Metall.
Entsetzt und unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, ging Kaitlyn einen weiteren Schritt in den Schrank hinein. Der Tank glich äußerlich einem Müllcontainer, war allerdings nicht rechteckig, sondern an einer Seite abgeschrägt. An dieser Seite befand sich die Tür. Sie sah aus wie der Eingang zu einem Sturmkeller.
Außen am Tank waren alle möglichen Schläuche und Kabel befestigt. Ein Gerät, das daneben stand, sah aus wie der Elektroenzephalograph, mit dem Joyce Kaitlyns Hirnwellen gemessen hatte. Daneben standen weitere Geräte, die Kaitlyn nicht kannte.
Der Tank selber wirkte wie ein riesiger Sarg.
»Was … ist das?«, flüsterte Kaitlyn. Vor Angst stockte ihr der Atem. Das Stahlungetüm war von einer Aura des Bösen umgeben.
»Nur ein Versuchsaufbau, meine Liebe«, sagte Mr Zetes. »Man bezeichnet es als Isolationstank. Im Grunde handelt es sich um einen Ganzfeldkokon. Wenn man eine Probandin da hineinsetzt, ist sie von völliger Dunkelheit und Stille umgeben. Es gelangt kein Licht und kein Geräusch hinein. Außerdem ist der Tank mit Wasser gefüllt, sodass sie die Schwerkraft des eigenen Körpers nicht mehr spürt. Auch sonst gibt es keinerlei Sinnesstimulation. Unter diesen Bedingungen kann eine Person …«
… verrückt werden, dachte Kait. Sie wich unwillkürlich vor dem Tank zurück und drehte sich um. Schon allein die Vorstellung, völliger Dunkelheit und Stille ausgesetzt zu werden, rief Übelkeit in ihr hervor.
Mr Zetes packte sie an der Hand und hielt sie fest. »Da die Person nicht von äußerlichen Einflüssen abgelenkt wird, kann sie ihre paranormalen Kräfte vollständig entfalten. Genau wie neulich, als Joyce dir Augenbinde und
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