Visionen Der Nacht: Der Tödliche Bann
leugnen.«
Kaitlyn spürte, dass auch Gabriel auf ihre Antwort wartete. »Wir haben uns getrennt«, sagte sie. Sie wünschte plötzlich, sie hätte über diesen Teil der Geschichte intensiver nachgedacht. »Ich interessiere mich für Gabriel, und das hat ihn wütend gemacht. Außerdem«, fügte sie, einer glücklichen Eingebung folgend, hinzu, »mag er Anna.«
Sie hatte keine Ahnung, wie sie darauf kam, doch diese Behauptung hatte sowohl auf Joyce als auch auf Gabriel eine unerwartete Wirkung. Joyce hob die Augenbrauen, doch ihr Mund entspannte sich merklich. Gabriel stieß einen leisen Pfiff aus, als wolle er sagen, er habe es die ganze Zeit gewusst.
Kaitlyn war überrascht. Das hatte sie gar nicht beabsichtigt. Rob hatte nie auch nur eine Andeutung gemacht … ebenso wenig wie Anna … oder zumindest glaubte sie das …
Doch im Moment konnte sie darüber nicht näher nachdenken. Sie musste sich auf das Hier und Jetzt konzentrieren. Sie blickte Joyce, die hin und her gerissen schien, in die Augen.
»Sehen Sie mal«, sagte Kaitlyn, »es ist doch alles ganz klar. Ich wäre nie hergekommen, wenn es mir nicht ernst wäre. Ich würde meinen Vater nicht in eine solche Gefahr bringen.« Sie hielt Joyce’ Blick stand. »Denn Sie können ihm richtig wehtun, oder etwa nicht? Das würde ich doch nicht riskieren.« Dieser Punkt war ihr überhaupt erst kurz vorher eingefallen. Mr Zetes’ Helfer konnten Menschen auch aus der Ferne attackieren, und wenn sie die Wahrheit über Kait herausfanden, war ihr Dad das erste Opfer. Doch für einen Rückzieher war es zu spät. Ihren Vater konnte sie nur schützen, indem sie gut schauspielerte.
»Hm. Aber du bist bis nach Kanada gefahren, um uns zu bekämpfen.«
»Stimmt schon. Erst als wir die Gemeinschaft gefunden haben, habe ich gemerkt, was das für ein armseliger Haufen ist. Die können sich nicht einmal selbst helfen und erst recht nicht anderen. Es ist ja nicht so, dass mir Rob und die anderen egal sind. Aber ich kann einfach nicht bei ihnen bleiben, wenn sie unbedingt auf der Verliererstraße bleiben wollen. Ich will auf der Seite der Sieger sein.«
»Du und Lydia«, sagte Joyce mit grimmiger Heiterkeit. Wieder hatte sie einen Treffer gelandet, dachte Kait. »Na ja, wenn alles andere scheitert, können wir dich immer noch als Geisel nehmen«, murmelte Joyce.
»Können wir dann frühstücken?«, fragte Gabriel, ohne abzuwarten, wie Kaitlyn auf Joyce’ Überlegung reagierte.
Joyce gab Kaitlyn die Sonnenbrille zurück. »In Ordnung«, sagte sie. »Es ist sonst noch niemand auf. Bedient euch.«
Die freundliche Hausfrau, die sich um alles kümmert, bist du wohl nicht mehr, dachte Kaitlyn, ohne diesen Gedanken vor Gabriel zu verbergen. Er grinste.
Die Küche hatte sich verändert. Erstens war sie unaufgeräumt. Im Waschbecken stapelte sich das schmutzige Geschirr, und neben dem Mülleimer lagen leere Cola-Dosen auf dem Boden. Auf der Arbeitsfläche standen schlampig verschlossene Schachteln.
Vom Chinesen, wie Kaitlyn sah. Wir durften bei Joyce nie chinesisches Essen bestellen. Und dann diese Packung mit gezuckerten Frühstücksflocken – was war mit Joyce’ Vorliebe für gesunde Ernährung geschehen? Hatte sie ihnen das alles auch nur vorgespielt?
»Ich habe dir ja gesagt, dass sie das alles nicht mehr so richtig unter Kontrolle hat«, murmelte Gabriel und warf ihr einen vielsagenden Blick zu.
Kaitlyn zuckte mit den Schultern und machte sich eine Schüssel Honig-Cornflakes.
Als sie fertig waren, sagte Joyce: »Gut, dann geht mal nach oben und wascht euch. Du kannst vorerst in Lydias Zimmer schlafen, Kaitlyn. Wie wir es in Zukunft halten, sehen wir, wenn er heute Abend kommt.«
Kaitlyn war überrascht. »Lydia wohnt hier?«
»Hab ich doch erzählt«, sagte Gabriel. »Unter der Fuchtel ihres Vaters.«
Als die beiden die Treppe hinaufgingen, fragte Kaitlyn: »Welches Zimmer hast du denn jetzt?«
»Dasselbe wie bisher.« Er deutete auf das schönste Zimmer des Hauses, das nicht nur das größte war, sondern auch Kabelanschluss und einen Balkon hatte. Er warf ihr einen verschmitzten Blick zu. »Wir können es uns teilen. Du darfst auch das Sprudelbad benutzen. Und das Doppelbett.«
»Da hätte Joyce ganz bestimmt etwas dagegen«, entgegnete Kaitlyn.
Sie wusste nicht, welches Zimmer Lydia bewohnte, also klopfte sie an die Tür des Zimmers, das Anna und sie sich geteilt hatten, und steckte den Kopf durch die Tür.
Lydia, die in ihrem extragroßen T-Shirt zierlich
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