Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Visionen Der Nacht: Der Tödliche Bann

Visionen Der Nacht: Der Tödliche Bann

Titel: Visionen Der Nacht: Der Tödliche Bann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa J. Smith
Vom Netzwerk:
Hand, aus der Blut tropfte. Auf den Boden. Gabriels Hand, verletzt von der Kristallscherbe. Blut tropfte auf Marisols Boden.
    Sie hatte es gesehen, sie, Kaitlyn. Sie war Kaitlyn.
    Sie hatte wieder ein Ich.
    Gabriel?

    Seine Stimme antwortete in einer Lautstärke, die ihr wehtat. Ja. Kaitlyn, sprich mit mir.
    Gabriel, bist du das wirklich? Ich dachte … du wärst wütend. Nach allem, was ich gesagt habe …
    Sie war sich nicht sicher, was sie gesagt hatte. Oder was »sagen« überhaupt war.
    Kaitlyn, sei nicht – denk nicht daran. Geht es dir gut?
    Was für eine idiotische Frage. Kaitlyn hatte keine Worte, sie zu beantworten, daher schickte sie über die schmale, unsichere Verbindung zwischen ihnen eine Vision dessen, wie sich die Leere anfühlte. Nichts, verlassen, leer …
    Hör auf. Bitte hör auf. Oh Gott, Kait, was kann ich nur tun?
    Kaitlyn spürte, wie der Sog der Schwärze wieder stärker wurde. Festhalten konnte sie sich nur an der schwachen Verbindung zu Gabriel. Sie war wie ein schwacher Lichtstrahl in einem dunklen Verlies. Sie hielt sie bei Verstand, doch das reichte nicht. Sie brauchte mehr, sie musste …
    Du musst sehen und hören, sagte Gabriel.
    Ich weiß nicht einmal, was das ist, erwiderte Kaitlyn. Sie spürte Hysterie in sich aufsteigen, die an ihrem Verstand zerrte.
    Ich zeige es dir, sagte Gabriel schlicht.
    Und dann gab er ihr Sinneseindrücke, Dinge, die er gesehen und gehört hatte, Erinnerungen. Er gab ihr alles.

    »Erinnerst du dich noch an die Sonne? Sie ist warm und gelb und so hell, dass du nicht direkt hineinsehen kannst. So. Siehst du?« Sie war so ausgehungert nach Sinneseindrücken, dass sie seine Stimme wirklich zu hören glaubte. Er schenkte ihr den Klang der Worte. Und er schickte ihr ein Bild. Sobald Kaitlyn es sah, fiel es ihr wieder ein. Die Sonne.
    Das ist gut, sagte sie. Das fühlt sich gut an.
    »So sieht es im Sommer aus. Ich bin in New York aufgewachsen, und im Sommer ist meine Mutter manchmal mit mir zu einem Ort am Meer gefahren. Erinnerst du dich an das Meer?«
    Blaugrün, kühl. Warmer Sand zwischen den Zehen, kratzende Sandkörner im Badeanzug. Wasser, das zischt und spritzt, Kinder, die kreischen. Der Geruch und Geschmack von Salz.
    Kaitlyn sog alles ein, gierig auf jede kleine Nuance, die sie sah, hörte oder roch. Mehr, bitte. Mehr.
    »Wir sind immer zur Strandpromenade gegangen, meine Mutter und ich. Sie hat mir einen Hotdog und ein Eis spendiert. Sie hatte nicht viel Geld, weil mein Alter alles in Alkohol umgesetzt hat. Aber manchmal brachte sie ihn dazu, dass er ihr einen Dollar gab, wenn sie ihm sein Lieblingsessen kochte. Dann hat sie mir ein Eis gekauft. Weißt du noch, Eis?«
    Cremig und kalt. Klebt am Kinn. Das üppige, dunkle Aroma von Schokolade.

    Ja, das weiß ich noch. Danke, Gabriel.
    Er gab ihr mehr. Alle seine besten Erinnerungen, alles Gute, was ihm einfiel. Goldene Herbstnachmittage, Sprünge mit dem Skateboard, Momente mit seiner Mutter, als er sieben war und das Fieber bekam, das ihm seine Kräfte brachte.
    Alles, was er war, gab er ihr.
    Kaitlyn verschlang die Eindrücke, füllte sich mit der Welt draußen auf. Sie war durchflutet von Sonnenschein, einer kühlen Brise, dem Geruch verbrennender Blätter und dem Geschmack der Süßigkeiten an Halloween. Und Musik. Sie hatte gar nicht gewusst, dass Gabriel Musik so sehr liebte. Mit vierzehn hatte er in einer Band mitspielen wollen. Eines Abends hatte er mit dem Schlagzeuger improvisiert und sich bemüht, besser mit ihm in Einklang zu kommen – da lag sein Freund am Boden und hielt sich den Kopf. Gabriels Geist hatte ihn mit voller Wucht getroffen. Als Gabriel ihm helfen wollte, war er schreiend davongerannt.
    Eine Woche später fuhr Gabriel in das Forschungszentrum in Durham, wo er, wie seine Rektorin, seine Mutter und die Sozialarbeiterin hofften, lernen sollte, seine Kräfte zu beherrschen. Das letzte Wort, das sein Vater ihm zum Abschied mit auf den Weg gegeben hatte, war »Missgeburt«.
    »Vergiss das«, sagte Gabriel. Er wollte ihr nur die guten Dinge geben, nichts Deprimierendes. Er wollte
nicht, dass sie den Stoppelbart und den verschwommenen Blick seines Vaters sah oder dass sie den Schmerz seines Gürtels spürte.
    Das ist schon in Ordnung, sagte Kaitlyn. Ich meine, ich sehe mir nichts an, was du nicht willst, aber um mich brauchst du dich nicht zu sorgen … ich werde es niemandem sagen. Es tut mir so leid. Ach, Gabriel, es tut mir so leid. Und …
    Sie wollte ihm sagen, dass sie ihn

Weitere Kostenlose Bücher