Visionen Der Nacht: Der Tödliche Bann
ihren Sinneswahrnehmungen bestanden.
Gekannt hatte Kaitlyn nur ihre innere Karte von der Welt, in der verzeichnet war, was sie sah und hörte. Doch es gab nichts zu sehen, nichts zu hören, keine Karte, keine Welt. Sie konnte sich nicht mehr darauf verlassen, dass es da draußen etwas gab – oder dass es überhaupt ein Draußen gab.
Hatte das Wort »draußen« überhaupt eine Bedeutung? Gab es etwas außerhalb des Universums?
Vielleicht hatte es nie etwas außer ihr gegeben.
Wusste sie überhaupt noch, wie die Farbe »Gelb« aussah? Oder wie sich »Seide« anfühlte?
Nein. Das war alles nur ein Witz gewesen oder ein Traum. Nichts davon existierte. »Berühren« oder »Schmecken« oder »Hören« – das hatte sie sich nur ausgedacht, um der Leere zu entfliehen.
Sie war immer allein gewesen in der Leere. Nur sie, nur K…
Wer war sie? Einen Augenblick lang hätte sie fast einen Namen gehabt, doch dann war er weg. Sie war namenlos.
Es gab sie gar nicht.
Es gab niemanden, der diese Gedanken hatte. Kein »Ich«, das Worte dafür finden konnte.
Es gab kein … kein … kein …
Und dann … ein stummer Schrei:
Kaitlyn!
KAPITEL VIERZEHN
Gabriel hatte Angst.
Beim Abendessen saß Frost neben ihm, sicherlich auf Mr Zetes’ Geheiß. Ständig berührte sie ihn, streichelte ihm das Handgelenk, tätschelte ihm die Schulter. Auch das ohne Zweifel auf Mr Zetes’ Anordnung.
Sie wollten wissen, ob er versuchen würde, mit Kaitlyn in Kontakt zu treten.
Doch das Restaurant in San Francisco war ohnehin zu weit vom Institut entfernt. Kaitlyn befand sich außerhalb seiner Reichweite, was Joyce Mr Zetes sicherlich mitgeteilt hatte. Gabriel versuchte nicht einmal, sie telepathisch zu erreichen. Stattdessen setzte er alles daran, die anderen davon zu überzeugen, dass ihm nichts ferner lag. Dass er Kaitlyn hasste wie Schakal Mac.
Es schien ihm ganz gut zu gelingen, denn Lydia starrte ihn mit brennendem grünem Hass in den Augen an – wenn ihr Vater gerade nicht hinsah, natürlich.
Sie war nicht die Einzige, die offensichtlich nicht glücklich war. Bri hatte so gut wie nichts gegessen. Renny schluckte schwer, als sei ihm schlecht. Und
Joyce saß steif und ausdruckslos da, die blauen Augen starr auf eine Kerze in der Mitte des Tisches gerichtet.
Auch die Disco, in die sie anschließend gingen, war weit von San Carlos entfernt, wenn auch nicht ganz so weit. Frost ließ Gabriel links liegen, um mit Mac zu tanzen. Sobald sie weg war, holte Gabriel das Kristallstück heraus, das er in der Tasche hatte.
Das müsste seine Reichweite vergrößern, aber ob es auch reichte? Er war sich nicht sicher. Eine telepathische Verbindung über eine so große Entfernung war ihm erst einmal gelungen, und damals hatte er schreckliche Schmerzen gehabt.
Er musste es versuchen.
Mr Zetes neben sich, der eine Zigarre rauchte und wohlwollend die Tänzer anlächelte, schloss Gabriel die Hand fest um das winzige Kristallstück und schickte seinen Geist auf die Reise.
Was ihm aber wirklich Angst machte, war, dass er auch, als er meinte, weit genug gekommen zu sein, nichts von Kaitlyn spürte. An ihre Stelle im Netz war ein Nichts getreten. Er war nicht einmal eine Wand, sondern vielmehr eine Leere. Es war niemand da.
Verzweifelt rief er immer wieder ihren Namen.
In ihrem Geist war eine Vision.
Wessen Geist? Das spielte keine Rolle. Vielleicht war da auch gar kein Geist, sondern nur die Vision.
Eine Rose, voll aufgeblüht, mit kräftigen Blütenblättern. Die Blüte hatte eine Farbe, deren Namen sie vergessen hatte. Zunächst war es ein schönes Bild: die vielen Blütenblätter, getrennt und doch miteinander verbunden. Es erinnerte sie an etwas. Doch dann verdarb das Bild. Die Blütenblätter wurden schwarz – die Farbe der Leere. Aus der Rose tropfte Blut. Sie war verletzt, ja, tödlich verwundet. Die Blätter begannen zu fallen … und auf jedem Blatt war ein Gesicht, und jedes Gesicht schrie …
Kaitlyn! Kaitlyn, kannst du mich hören?
Die Blütenblätter fielen, sie tropften. Wie Tränen.
Kaitlyn! Oh Gott, bitte antworte mir. Bitte, Kaitlyn. Kaitlyn!
Die Stimme klang verzweifelt. Wessen Stimme? Und mit wem redete sie?
Ich konnte mich nicht früher melden. Er hat Frost neben mich gesetzt, sie hat mich ständig berührt. Sie hätte es gemerkt. Aber jetzt habe ich ihn davon überzeugt, dass ich nichts mit dir zu tun haben will – oh bitte, Kaitlyn. Antworte mir. Ich bin es, Gabriel.
Plötzlich erschien eine andere Vision. Eine
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