Visionen Der Nacht: Die Dunkle Gabe
wissen, wie es funktioniert?«
Kaitlyn rührte sich nicht, sagte kein Wort. Sie sah ihn nur an.
Er sprach präzis, als hielte er einen Vortrag. »Jedes Mal, wenn zwei Menschen mental in Kontakt treten, wird Energie übertragen. Das ist das Wesen eines Kontaktes: die Übertragung einer bestimmten Form von Energie. Die Energie trägt Informationen hin und her. Verstehst du?«
Auch Rob hatte von Energie gesprochen, dem Kanalisieren von Energie. Aber vielleicht war das eine andere Art Energie gewesen.
»Und?«, fragte Kaitlyn.
»Das Problem ist, dass der eine Mensch innerlich stärker ist als der andere, mehr Kraft hat. Und wenn ein starker Geist mit einem schwachen in Kontakt tritt, kann die Sache außer Kontrolle geraten.« Er hielt inne und starrte mit entrücktem Blick den dunklen Vorhang vor dem Fenster an.
»Wie?«, flüsterte Kaitlyn. Er schien sie gar nicht zu hören. »Wie kann sie außer Kontrolle geraten, Gabriel? «
Ohne den Blick vom Vorhang abzuwenden, sagte er: »Weißt du, wie Wasser von oben nach unten fließt? Oder wie Elektrizität nach Erdung für ihre Kraft sucht? Nun, wenn ein Geist mit einem anderen in Verbindung tritt, fließt Energie. Hin und her. Doch der stärkere Geist hat die größere Anziehungskraft.«
»Wie bei Magneten?«, fragte Kaitlyn. Sie war in Naturwissenschaften keine Leuchte, aber so viel wusste sie noch.
»Ein Magnet? Am Anfang vielleicht. Aber wenn etwas geschieht, wenn die Sache aus dem Gleichgewicht gerät, dann gleicht es mehr einem schwarzen Loch. Dem schwächeren Geist wird alle Energie entzogen. Der stärkere saugt alles aus ihm heraus.«
Er stand völlig reglos da, jeder Muskel schien angespannt. Die Hände hatte er in die Taschen gesteckt, zur Faust geballt. Und die grauen Augen wirkten
trostlos und einsam. Kaitlyn war froh, dass er sie nicht ansah.
»Du bist Telepath?«
»So etwas wie mich könnte man auch als einen Vampir bezeichnen, der sich von menschlicher Energie nährt«, entgegnete er trocken.
Und ich habe mir leid getan, dachte Kaitlyn. Nur weil ich anderen nicht helfen konnte, weil meine Zeichnungen nutzlos waren. Gabriels Gabe bringt ihn dazu, zu morden.
»Muss es denn so sein?«
Seine Augen verengten sich, und er warf ihr einen raschen Blick zu. Er hatte das Mitleid in ihrer Stimme gehört.
»Nicht, wenn ich dafür sorge, dass der Kontakt kurz ist. Oder wenn der andere Geist einigermaßen stark ist.«
Kaitlyn fiel es jetzt wieder ein. Wie lange? Etwa 45 Sekunden. Oh Gott.
Sid, der Testkandidat, war schreiend aus dem Labor gestürzt.
Der Freiwillige hat übernatürliche Kräfte. Aber offenbar nicht genug.
Wie stark musste einer sein, um sich gegen Gabriel zu behaupten?
»Leider«, sagte Gabriel, »kann schon die kleinste Kleinigkeit das Gleichgewicht stören. Es kann geschehen, ehe man es überhaupt merkt.«
Kaitlyn fürchtete sich.
Es war nicht gut, in Gabriels Nähe zu sein.
Er sah es, er spürte es. Und offenbar rief es einen Instinkt in ihm wach – er wäre ihr am liebsten an die Gurgel gegangen.
»Deshalb muss ich so vorsichtig sein«, sagte er. Um seinen Mund spielte ein bitterer Zug. »Ich muss alles im Griff haben. Sobald ich die Kontrolle verliere, kann etwas Schreckliches passieren.«
Kaitlyn bemühte sich, gleichmäßig zu atmen. Er kam auf sie zu, wie ein Wolf, der etwas gewittert hat. Sie zwang sich, stehen zu bleiben, ihn weiter anzusehen. Sie machte ihren Nacken steif wie Stahl.
»So ist es das erste Mal geschehen«, erklärte ihr Gabriel. »Es war ein Mädchen im Zentrum in Durham. Wir mochten einander. Und wir wollten zusammen sein. Aber als wir uns nahe kamen – passierte es.«
Er stand jetzt direkt vor ihr. Kaitlyn drückte sich unwillkürlich gegen die Wand.
»Ich wollte das nicht. Aber meine Gefühle haben die Oberhand gewonnen, weißt du. Und das war gefährlich. Ich kam ihr immer näher, und auf einmal war da eine Verbindung zwischen ihrem Geist und meinem.« Er hielt inne, atmete schnell und flach und fuhr dann fort: »Sie war schwach, und sie hatte Angst. Hast du Angst, Kaitlyn?«
KAPITEL ACHT
Du musst lügen, dachte Kaitlyn. Sie war sich sicher, dass er eine Lüge erkennen würde, fürchtete aber auch, dass die Wahrheit sie umbringen könnte.
Es blieb ihr nichts anderes übrig, als in die Offensive zu gehen.
»Willst du das denn? Ist es das, was du willst – dass so etwas wieder passiert?«
Über seine grauen Augen schien sich ein Schleier zu senken, der den dunklen Schimmer trübte. Er wich
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