Visionen Der Nacht: Die Dunkle Gabe
Menge Tamtam mit der Polizei gegeben, die sich an Ort und Stelle umgesehen, aber nichts gefunden hatte. Die Beamten versprachen, die Streife in der Gegend patrouillieren zu lassen, und Joyce bat die fünf Hausbewohner, die Außentüren immer abzuschließen und darauf zu achten, ob Fremde um das Haus schlichen.
»Und du gehst bitte nicht mehr allein raus«, ermahnte sie Kait. »Vor allem nachts.« Kait hatte es ihr nur allzu bereitwillig versprochen.
Aber jetzt konnte sie nicht schlafen. Es war alles so unheimlich gewesen, so beunruhigend. Warum sollte ihr so ein Sekten-Heini hierher folgen? Gehörte er überhaupt einer Sekte an? Und wenn nicht, warum war er dann so seltsam gekleidet gewesen? War es nur eine Tarnung? Wenn ja, dann war sie ziemlich dämlich.
Was wollte er von ihr?
Und hinter all diesen Gedanken flüsterte unablässig eine bedrohliche Stimme: Gabriel ist ein Mörder.
Die anderen hatten keine Ahnung, bis auf Rob.
Kaitlyn war sich sicher, dass er es wusste. Trotzdem waren heute Abend alle ziemlich ruppig mit Gabriel umgesprungen. Niemand hatte ein anerkennendes Wort dafür gefunden, dass er Kait gerettet hatte. Lewis und Anna hielten sich von ihm fern, als befürchteten sie, dass er jeden Moment mit dem Schnappmesser auf sie losging. Und Rob fixierte ihn mit nur mühsam unterdrückter Wut.
Rob – nein, sie wollte jetzt nicht über ihn nachdenken. Das wühlte sie zu sehr auf.
Aus dem anderen Bett hörte Kaitlyn Anna gleichmäßig atmen. Sie sah zu ihr hinüber, eine reglose Silhouette in der Dunkelheit, und stand dann leise auf.
Sie schlüpfte in ihren Morgenmantel und verließ geräuschlos das Zimmer.
Ins Arbeitszimmer fiel trübes Mondlicht. Kait saß im Erker am Fenster, das Kinn auf die Knie gestützt. Draußen blitzten nur wenige Lichter durch die wogenden Äste der Bäume. Da sah sie, dass auch durch die Vorhänge in Gabriels Zimmer Licht fiel.
Was sie nun tat, geschah rein instinktiv. Wenn sie darüber nachgedacht hätte, hätte sie es wohl gelassen. Aber dafür nahm sie sich nicht die Zeit.
Sie sprang auf, ging zu Gabriels Tür und klopfte an.
Es war ein sehr leises Klopfen, für den Fall, dass er bei Licht eingeschlafen war. Doch kurz darauf öffnete sich die Tür.
Gabriel wirkte verschlafen und blickte sie finster an.
»Was gibt’s?«, fragte er schroff.
»Kommst du mit ins Arbeitszimmer?«, flüsterte Kaitlyn.
Seine düstere Miene wich einem strahlenden Lächeln. »Nein, du kommst mit hier rein«
Kaitlyn war klar, dass er sie provozierte. Na gut, super. Sie würde beweisen, dass sie ihm vertraute.
Mit hoch erhobenem Kopf und gestrecktem Rücken rauschte sie an ihm vorbei und setzte sich auf den Schreibtischstuhl. Unauffällig sah sie sich um. Das Zimmer war wirklich luxuriös. Ein großes Bett, aufeinander abgestimmte Möbel und unendlich viel Platz. Allerdings sah sie keinerlei persönliche Habseligkeiten. Vielleicht besaß Gabriel keine.
Gabriel setzte sich behäbig aufs Bett, wobei er sie nie aus den Augen ließ. Er hatte die Tür angelehnt. Kaitlyn stand auf und schloss sie. Was sie dazu veranlasste, wusste sie selbst nicht.
»Du bist ziemlich verrückt, weißt du«, sagte Gabriel emotionslos, als sie sich wieder setzte.
»Ich wollte mich bei dir bedanken«, sagte Kaitlyn. Und ich habe keine Angst vor dir, fügte sie im Stillen hinzu. Sie wusste noch immer nicht, wie sie eigentlich zu Gabriel stand, ob sie ihn mochte oder gar hasste. Aber er hatte sie aus einer schlimmen Lage befreit.
Gabriel war nicht sonderlich erfreut. »Ist das alles? «, fragte er spöttisch.
»Natürlich.«
»Du bist nicht zufällig ein bisschen neugierig?« Als Kaitlyn blinzelte, lehnte er sich vor und bleckte die Zähne. »Du willst es nicht wissen?«
Kaitlyn konnte nicht verhindern, dass sich die Abscheu, die sie spürte, in ihrem Gesicht widerspiegelte. »Du meinst … wegen …«
»… des Mordes«, sagte Gabriel, dessen Grinsen mit jeder Sekunde widerlicher wurde.
In Kaitlyns Magen breitete sich Angst aus. Er hatte recht. Sie war völlig verrückt. Was hatte sie hier zu suchen, in seinem Zimmer? Noch vor zwei Tagen hätte sie keinen Jungen der Welt freiwillig besucht, und jetzt saß sie hier und unterhielt sich mit einem Mörder.
Aber Joyce hätte ihn nicht ins Institut geholt, wenn er wirklich gefährlich wäre, dachte sie. Das Risiko wäre sie nie eingegangen.
Langsam sagte Kaitlyn: »War es denn wirklich Mord?« Sie sah Gabriel direkt an.
Sein Gesichtsausdruck veränderte
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