Visionen Der Nacht: Die Dunkle Gabe
sogar ein bisschen vor ihr zurück.
Kaitlyn ließ nicht locker. »Ich glaube nicht, dass du dem Mädchen wehtun wolltest. Ich glaube, du hast sie geliebt.«
Er wich noch weiter zurück.
»Wie hieß sie?«, fragte Kaitlyn.
Zu ihrer Überraschung antwortete er. »Iris. Sie war noch so jung. Wir waren beide noch sehr jung. Wir hatten keine Ahnung, was wir taten.«
»Und war sie da, weil sie übersinnliche Kräfte hatte?«
Er kräuselte die Lippen. »Nicht genug«, zitierte er seine Aussage vom Nachmittag. Aus seinen Augen
sprach die pure Bitterkeit. »Sie hatte nicht genug von dem, was sie gebraucht hätte. Lebenskraft. Bioenergie. Was immer es ist, das Menschen übersinnliche Kräfte verleiht – und sie am Leben hält. In der Nacht, damals im Zentrum, als ich sie endlich loslassen konnte, war ihr Gesicht weiß, schon fast blau. Sie war tot.«
Sein Brustkorb hob sich schwer. Nachdenklich sagte er: »Ohne Leben. Ohne Energie. Ich hatte sie völlig ausgesaugt.«
Kaitlyn war jetzt nicht mehr in der Offensive. Sie konnte seinem Blick nicht standhalten. Sie hatte das Gefühl, als schnürte ihr jemand die Luft ab. Nach kurzem Schweigen sagte sie leise: »Du hast es nicht absichtlich getan.«
»Ach nein?«, sagte er. Die Gefühle, die sich seiner bemächtigt hatten, schien er nun besiegt zu haben. Sein Atem ging wieder ruhig. Als Kaitlyn aufblickte, sah sie, dass die Bitterkeit aus seinem Gesicht gewichen war. Sein Blick war … leer.
»Die Leute im Zentrum haben das anders gesehen«, fuhr er fort. »Als mir klar wurde, dass sie nicht mehr atmete, rief ich um Hilfe. Als sie kamen und sahen, dass sie ganz blau war, nahmen sie das Schlimmste an. Sie behaupteten, ich wäre auf sie losgegangen. Sie sagten, ich hätte versucht, sie zu etwas zu zwingen, und als sie sich wehrte, hätte ich sie getötet.«
Kait erfasste eine Woge schwindelerregenden Entsetzens.
Sie war froh, dass sie die Wand hinter sich hatte. Sie lehnte sich mit dem vollen Gewicht dagegen, und erst da merkte sie, dass sie die Augen geschlossen hatte.
»Es tut mir leid«, flüsterte sie und öffnete die Augen. Dann, um ihn zu trösten, fügte sie hinzu: »Rob hat recht. Was Joyce hier tut, ist wirklich wichtig. Wir müssen alle lernen, unsere Kräfte zu beherrschen. «
Gabriel verzog das Gesicht. »Du glaubst den Schwachsinn, den der Bauerntölpel absondert?«, sagte er mit offener Verachtung.
Kaitlyn war bestürzt. »Warum hasst du Rob sosehr?«
»Kannst du dir das nicht denken? Der goldene Knabe war auch da, in Durham. Sie haben ihn geradezu angebetet. Alles, was er tat, war richtig. Und er hat auch herausgefunden, was mit Iris geschehen war. Er wusste nicht, wie ich es getan hatte, aber er wusste, dass ich ihr die Energie entzogen hatte, wie wenn man eine Arterie öffnet und das Blut heraussaugt. Sie haben mich natürlich gejagt. Wie ein Tier. Die Leute vom Zentrum, die Polizei, einfach alle.« Er klang fast unbeteiligt.
Aber das war nicht Robs Schuld, dachte Kait. War es nicht. Laut sagte sie: »Also bist du weggelaufen.«
»Genau. Ich war vierzehn und ziemlich dumm. Aber ich hatte Glück, denn sie waren noch dümmer.
Sie brauchten ein ganzes Jahr, um mich zu finden, und da war ich schon in Kalifornien. Im Gefängnis.«
»Wieder wegen Mordes«, sagte Kaitlyn.
»Wenn die Welt so bescheuert ist, dann rächst du dich einfach. Die Leute verdienen es nicht anders. Wer schwach ist, verdient es nicht anders. Der Typ, den ich umgebracht habe, ist mir blöd gekommen. Er wollte mir fünf Dollar klauen und mich deshalb erschießen. Ich habe ihn zuerst erwischt.«
Rache, dachte Kaitlyn. Sie konnte sich den Teil der Geschichte, den Gabriel nicht erzählt hatte, ganz gut vorstellen. Wie er weggelaufen war. Ihm war es völlig gleich, was mit ihm geschah, was er tat. Er hatte einen Hass auf alles gehabt, auf das Universum, weil es ihm diese Kräfte gegeben hatte; auf all die schwachen Idioten, weil sie so leicht umzubringen waren; auf das Zentrum, weil es ihm nicht beigebracht hatte, seine Gabe zu beherrschen – und sich selbst. Besonders sich selbst. Und Rob, der immer nur Erfolg hatte, dessen Kräfte immer nur Gutes hervorbrachten. Der stets alles im Griff hatte. Der noch an etwas glaubte.
»Er ist ein Idiot«, sagte Gabriel, als ob er ihre Gedanken gelesen hätte. Das kam Kaitlyn zu oft vor, es machte ihr zu schaffen. »Er und die anderen beiden, das sind doch Idioten. Aber du hast einen gesunden Menschenverstand, oder zumindest dachte ich
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