Visionen Der Nacht: Die Dunkle Gabe
entziehen. »Und von dir erst recht nicht.«
»Gabriel, hör zu …«, begann Kait.
Doch Gabriel war nicht in der Stimmung, ihr zuzuhören. Wellen abweisender, zerstörerischer Wut
schlugen über ihr zusammen wie die eiskalte Brandung des Nordmeers.
Ich brauche euch alle nicht. Glaubt ja nicht, es hätte sich irgendwas geändert. Morgen ist der Spuk beendet. Bis dahin lasst mich einfach in Ruhe!
Rob zögerte und ließ dann Gabriels Arm los. »Wie du willst«, sagte er fast sanft. Er ging einen Schritt zurück.
Jetzt, dachte Kaitlyn, wird es interessant. Mal sehen, ob Gabriel es in sein Zimmer schafft.
Er schaffte es. Nicht sehr sicher, aber verbissen. Auch ohne Worte machte er den anderen unmissverständlich klar, dass sie sich besser von ihm fernhielten.
Die Tür zum großen Zimmer schloss sich hinter ihm. Kaitlyn nahm auf der anderen Seite noch etwas wahr, doch es fühlte sich an wie eine massive Wand. Sie kannte solche Schutzwälle, denn sie hatte früher selber welche errichtet.
»Wir gehen wohl alle besser ins Bett«, schlug Anna vor.
Die anderen befolgten ihren Rat bereitwillig. Kaitlyns Uhr zeigte 2 Uhr 52. Sie fragte sich noch, ob sie am nächsten Tag wohl in die Schule gehen würden, als die Erschöpfung die Oberhand gewann.
Der letzte Gedanke, ehe sie in den Schlaf sank, war: Übrigens, Gabriel. Danke, dass du deinen Hals für uns riskiert hast.
Als Antwort erhielt sie schaurige Bilder von Eiswällen und verrammelten Türen.
Kaitlyn träumte. Es war wieder der Traum von der felsigen Halbinsel im Ozean, über die der kalte Wind hinwegfegte. Kaitlyn stand bibbernd in der Gischt. Der Himmel war so wolkenverhangen, dass sie nicht zu sagen vermochte, ob es Tag oder Abend war. Eine einsame Seemöwe zog über dem Wasser ihre Kreise.
Was für ein trostloser Ort, dachte sie.
»Kaitlyn!«
Oh ja, Kaitlyn erinnerte sich. Die Stimme, die ihren Namen rief. Das war auch im letzten Traum so gewesen. Und jetzt schaue ich mich gleich um, und es ist niemand da.
Mit dem Gefühl der Resignation drehte sie sich um. Und erschrak.
Rob kletterte über die Felsen zu ihr hinab. In seinem goldblonden Haar hingen winzige Wassertropfen, und an seiner Schlafanzughose klebte nasser Sand.
»Du hast hier überhaupt nichts zu suchen«, erklärte ihm Kaitlyn mit der für einen Traum typischen Direktheit.
»Ich will auch gar nicht hier sein. Es ist eiskalt«, sagte Rob.
Er begann auf und ab zu hopsen und seine nackten Arme übereinanderzuschlagen.
»Du hättest wenigstens anständige Kleider anziehen können.«
»Mir ist auch kalt«, sagte eine dritte Stimme. Kaitlyn sah sich um. Lewis und Anna standen hinter ihr. Beide sahen verfroren und durchnässt aus. »Wessen Traum ist das überhaupt?«, fragte Lewis.
»Es ist merkwürdig hier«, sagte Anna nachdenklich und sah sich mit ihren dunklen Augen interessiert um. Dann fügte sie hinzu: »Gabriel, ist alles in Ordnung?«
Gabriel stand ein wenig abseits, die Arme verschränkt. Kaitlyn wurde das Gefühl nicht los, dass in ihrem Traum ein paar Leute zu viel vorkamen. Überhaupt war er recht lächerlich. »Es ist komisch … «, begann sie.
Ich finde es überhaupt nicht komisch, und ich werde auch nicht mitspielen, sagte Gabriels Stimme in ihrem Kopf.
War das wirklich ein Traum? Kaitlyn hatte plötzlich Zweifel.
»Bist du echt da?«, fragte sie Gabriel. Er sah sie nur kalt an. Seine Augen hatten die Farbe des grauen Ozeans angenommen.
»Hört mal«, sagte Kaitlyn zu den anderen, »ich habe den Traum schon mal gehabt, aber ihr seid darin nicht vorgekommen. Seid ihr wirklich da, oder träume ich das nur?«
»Mich träumst du jedenfalls nicht«, sagte Lewis. »Ich träume dich.«
Rob ignorierte ihn und schüttelte den Kopf. »Ich kann dir nicht beweisen, dass ich echt bin – das geht erst morgen.«
Merkwürdigerweise ließ sich Kait davon überzeugen. Vielleicht lag es auch nur daran, dass Rob ihr so nah war. Ihr Puls beschleunigte sich, wenn sie ihn ansah, und sie war sich ziemlich sicher, dass sie sich so etwas Eindrückliches nicht einbilden konnte.
»Also haben wir jetzt dieselben Träume?«, fragte sie gereizt.
»Das muss an der telepathischen Verbindung liegen«, sagte Anna.
»Wenn Kaitlyn den Traum schon mal gehabt hat, dann ist es ihre Schuld«, sagte Lewis. »Oder etwa nicht? Wo sind wir überhaupt?«
Kaitlyn sah sich auf der schmalen Landzunge um. »Ich habe keine Ahnung. Der Traum hat früher nie lange gedauert.«
»Kannst du uns nicht irgendwohin
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