Visionen Der Nacht: Die Dunkle Gabe
träumen, wo es wärmer ist?«, fragte Lewis mit klappernden Zähnen.
Kaitlyn hätte nicht gewusst, wie. Der Traum kam ihr sowieso nicht vor wie ein Traum. Sie fühlte sich viel mehr wie die wache Kait als wie die schlafende, die benebelt durch ihre Träume stolperte.
Anna, der die Kälte anscheinend am wenigsten ausmachte,
kniete am Ufer. »Das ist merkwürdig«, sagte sie. »Seht ihr die Steinhaufen?«
Die waren Kaitlyn vorher noch gar nicht aufgefallen. Die Halbinsel war von Felsen umgeben, die aussahen, als lägen sie noch nicht lange da. Einige der Steine waren zu skurrilen Türmen aufgestapelt. Manche der Türme sahen ein bisschen aus wie Gebäude oder Figuren.
»Was ist das?«, fragte Lewis und wollte gegen einen der Haufen kicken.
»He, lass das«, sagte Rob und trat dazwischen.
»Er hat recht«, sagte Anna. »Mach nicht alles kaputt. Das gehört nicht uns.«
Das gehört niemandem. Es ist nur ein Traum, sagte Gabriel und bedachte sie mit einem Blick, der kälter war als der Nordwind.
»Wenn es nur ein Traum ist, wie kommt es dann, dass du immer noch da bist?«, fragte Rob.
Gabriel wandte sich schweigend ab.
Eines wusste Kaitlyn genau: Dieser Traum hatte bereits viel länger gedauert als alle anderen vor ihm. Vielleicht waren sie in Wahrheit gar nicht hier, aber Rob hatte eine Gänsehaut — sie mussten einen Unterschlupf finden.
»Irgendwo müssen wir doch hinkönnen«, sagte sie. Dort, wo die Halbinsel zum Festland überging, gab es einen sehr nassen und steinigen Strand. Daran
schloss sich ein Streifen Kies an, und dahinter standen Bäume, hohe Tannen, die ein dunkles, unfreundliches Dickicht bildeten.
Auf der anderen Seite war Wasser, und jenseits des Wassers lag eine einsame Klippe, die an einigen Stellen kahl war, an anderen mit windschiefen Bäumen bewachsen. Nichts deutete auf menschliche Besiedelung hin, bis auf –
»Was ist das?«, sagte sie. »Das Weiße da.«
Sie konnte es im dämmrigen Licht kaum erkennen, doch das, was da oben auf der Klippe stand, sah aus wie ein weißes Haus. Sie hatte keine Ahnung, wie man dort hinkam.
»Es ist sinnlos«, murmelte sie. In diesem Moment wurde sie von einer Welle erfasst. Wie merkwürdig, alles wurde trübe. Plötzlich merkte sie, dass sie zwar auf der felsigen Halbinsel stand, aber gleichzeitig auch lag … in ihrem Bett.
Einen kurzen Augenblick lang schien es ihr, als könne sie sich aussuchen, wo sie lieber sein wollte.
Im Bett, dachte sie. Da ist es wärmer.
Als sie sich umdrehte, lag sie tatsächlich im Bett. Sie zog sich die Decke über den Kopf. Sie war zu benommen, um die anderen zu rufen und festzustellen, ob sie den Traum wirklich gemeinsam gehabt hatten. Sie wollte nur schlafen.
Oh nein.
Lewis?, dachte Kaitlyn verschlafen. Es war Morgen.
Hallo Kaitlyn, hallo Rob.
Zisch ab, Lewis. Ich schlafe noch, kam es undeutlich von Rob. Rob und Lewis waren in ihrem Zimmer. Trotzdem konnte Kaitlyn sie spüren.
Sie wühlte sich durch Laken und Decken ans Tageslicht und sah, dass auch Anna wach war. Ihr Gesicht war rosig vom Schlaf, sanft und freundlich.
Hallo Anna, sagte Kaitlyn.
Hallo Kait.
Hallo Anna, sagte Lewis munter.
Gute Nacht, John-Boy!, schrie Gabriel aus seinem Zimmer. Haltet gefälligst den Rand, alle miteinander!
Anna und Kaitlyn tauschten einen Blick. Ein Morgenmuffel, bemerkte Kaitlyn.
So sind alle Jungs, erklärte ihr Anna gleichmütig. Zumindest scheint er wieder zu Kräften gekommen zu sein.
Ich dachte, sagte Rob, der nun etwas wacher klang, du hättest gesagt, heute früh wäre es weg.
Vielsagendes Schweigen von Gabriels Seite.
Wir können uns gleich anziehen, sagte Kaitlyn, als das Schweigen anhielt. Es ist fast sieben.
Sie merkte, dass die anderen in den Hintergrund traten, wenn sie sich auf sich selbst konzentrierte. Das war gut so, dachte sie, während sie duschte und sich anzog. Es gab Dinge, bei denen sie lieber allein war.
Aber egal, was sie tat, sie spürte trotzdem die Anwesenheit der anderen, wenn auch schwach. Sie warteten am Rande ihres Bewusstseins, wie Freunde, die immer in Hörweite sind. Wenn sie sich auf einen von ihnen konzentrierte, kam er näher.
Bis auf Gabriel, der sich offenbar abgeschottet hatte. Wenn man sich auf ihn konzentrierte, war es, als prallte man gegen eine massive Mauer.
Erst als sie angezogen war, erinnerte sich Kaitlyn wieder an ihren Traum.
»Anna, letzte Nacht, hast du da etwas geträumt?«
Anna, die sich gerade die Haare bürstete, lugte unter dem offenen Haar
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