Visite bei Vollmond
die Schatten weg waren â wenn auch nur ein Wort davon in ein
Krankenzimmer vordrang, durch den Fahrstuhlschacht aufstieg oder um die nächste
Ecke flog â, waren wir ein leichtes Ziel für jeden Widersacher. Dass Charles
plötzlich fehlte, lieà sich noch erklären, aber wenn auch ich noch verschwand â¦
»Bin gleich zurück«, versprach
ich und stürmte davon. Sobald ich im Umkleideraum war, holte ich meine
Handtasche raus und rief Jake an. Er ging nicht dran. Ich versuchte es noch
einmal, dann noch einmal. Vergeblich.
Wen konnte ich anrufen? Sike?
Auch wenn sie selbst keine Auftragskillerin war, würde Jake sie doch kein
bisschen interessieren. Ich scrollte durch mein Telefonbuch. Der Einzige, dem
der Ernst der Lage klar sein würde und der vielleicht etwas unternehmen könnte,
war Asher. Ich fühlte mich schrecklich dabei, ihn schon wieder um einen
Gefallen zu bitten, rief ihn aber trotzdem an. Nach dem zweiten Klingeln hörte
ich seine Stimme.
»Edie?«
»Asher â danke für neulich.«
Starker Anfang, doch dann zögerte ich. Wie sollte ich es ihm erklären? Am
anderen Ende der Leitung war alles ruhig. Wahrscheinlich saà er gerade in
seiner Bibliothek auf dem Sofa und las.
»Gern geschehen. Und was ist
jetzt kaputt? Du rufst mich doch nur an, wenn du etwas brauchst.«
Betreten gestand ich mir ein,
dass er recht hatte. »Tut mir leid, Asher.«
»Fürs Erste geht das in
Ordnung. Aber stell dich besser darauf ein, dass ich irgendwann, wenn ich etwas brauche, vor deiner Tür stehen werde.« Er
klang völlig ernst.
»Ich mach alles, du musst nur
fragen. Aber hilf mir vorher bitte noch dieses eine Mal.«
»Okay.«
»Du erinnerst dich doch noch an
meinen Bruder, oder? Er verkauft Drogen. Und er steckt in Schwierigkeiten. Ich
sitze hier fest, bis meine Schicht vorbei ist, und ich weià nicht, was ich tun
soll.«
»Was ist mit den Schatten?«
»Auf die kann ich mich nicht
verlassen«, umschrieb ich die Situation sorgfältig.
Er brummte nachdenklich. »Wie
unzuverlässig sind sie momentan denn genau?«
»Das kann ich dir nicht sagen.«
»Schwebst du in Gefahr?«
»Nein. Ich muss nur wissen,
dass Jake in Sicherheit ist.« Solange ich zurückdenken konnte, hatte mich diese
Frage beschäftigt. »Er ist obdachlos und schläft meistens im Depot, das ist in
der Innenstadt. Und er verkauft dieses Zeug, Luna Lobos, das irgendwas mit den
Werwölfen zu tun hat. Und er ist ein Idiot. Wie er aussieht, weiÃt du ja. Das
ist eigentlich alles, was du wissen musst.«
»Alles klar, Edie. Ich werde
mich darum kümmern.« Es klang, als würde er ein Buch weglegen und aufstehen.
»Vielen, vielen Dank, Asher.«
»Gern geschehen. Aber danach
bist du mir etwas schuldig. Was genau, legen wir später fest.«
»Wie gesagt â alles.«
»Vielleicht nehme ich dich beim
Wort.« Bevor ich noch etwas erwidern konnte, legte er auf.
Nun ging es mir besser. Meaty
wartete bereits auf mich, als ich auf die Station zurückkam.
»Ich bin zurück, wie ich es
versprochen habe.«
Meaty nickte ernst. »Danke.«
Zusätzlich zu den vier
anderen hatte ich jetzt also auch noch Charlesâ Patienten an der Backe, und das
ohne einen Ãbergabebericht. Indem ich seine Akte durchblätterte, brachte ich
mich auf den neuesten Stand: Mr. Hale hatte ebenfalls eine Schussverletzung,
genau wie Javier. Aber da Mr. Hale der Tageslichtagent eines Vampirs war, hatte
er Anspruch auf Vampirblut, das ihn heilen würde. In den Unterlagen entdeckte
ich das Freigabeformular, das von seinem Thron unterzeichnet worden war; bisher
hatte ich einen solchen Befehl noch nie zu Gesicht bekommen. Das Formular
bestand aus dickem Pergament, genau wie Annas Partyeinladung. Mit einem
spöttischen Schnauben fragte ich mich, ob wohl alle Vampire im selben Laden
einkauften. Ganz unten war ein Fleck, in den etwas eingeprägt war. Ich hoffte,
dass es Siegelwachs war, doch es sah mehr aus wie getrocknetes Blut. In der
Mitte war ein Wappen zu sehen, das einen Dolch über einer Art Werkzeug zeigte.
Als ich mit dem Fingernagel daran kratzte, lösten sich ein paar trockene
Brösel.
»Igitt.«
Die Blutbank des County hielt
für Y4 stets Konserven der älteren Vampire bereit. Vampirblut war ein seltenes Gut â
obwohl sie jede Menge Blut in sich rein schütteten, kam nur sehr
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