Visite bei Vollmond
freuen. Doch ich konnte
es ihnen nicht verdenken, vielleicht war es ihre letzte Chance, ihren Anführer
lebend zu sehen â wenn man seinen momentanen Zustand denn so nennen wollte.
Helens Gäste gingen an uns vorbei, alle in verschiedene Schwarztöne gekleidet.
Ich war froh, dass Lucas nicht dabei war.
»Sie haben die Liaison mit
Lucas also beendet?« Sobald wir allein waren, schenkte sie mir ein
nachsichtiges Lächeln.
»Es gab eigentlich nie etwas,
das beendet werden musste.«
»Das behaupten Sie. Wölfe
können erstaunlich emotional sein. Doch es war besser so. Er wird das Rudel
anführen â kein ganz unproblematisches Leben.«
»Wer würde das besser wissen
als Sie?«, sagte ich ohne nachzudenken. Sie sah mich so verständnislos an, als
hätte ich eine Fremdsprache gesprochen. »Könnte ich mir vorstellen«, fügte ich
schnell hinzu.
»Nun ja, zu dem, was Sie sich
vorstellen können, kann ich mich natürlich nicht äuÃern. Aber heute Nacht wird
es vorbei sein.« Sie nahm meine Hand. »Sollte sich der Zustand meines Vaters
nicht bessern, wenn der Mond aufgeht, werden wir â¦Â« Sie zögerte.
»Alle MaÃnahmen einstellen«,
half ich ihr aus, da das weniger kaltschnäuzig klang als »den Stecker ziehen«.
Sie nickte grimmig. »Genau. Ich
werde heute Nachmittag die entsprechenden Papiere unterschreiben und dann bis
zum Ende bei ihm bleiben. Der Mond geht heute um 17:15 Uhr auf. Der Rest meines
Rudels wird mit Lucas laufen müssen, um seine Herrschaft einzuläuten, sogar der
kleine Fenris wird dort sein. Der Tod meines Vaters ist allein meine Bürde.«
Sie griff nach meiner Hand. »Würden Sie mir Gesellschaft leisten? Sie haben den
Anfang miterlebt, da wäre es nur passend, wenn Sie auch das Ende begleiten.«
Der Gedanke gefiel mir gar
nicht â aber ich wusste nicht, wie ich ihr das abschlagen sollte. Der Wagen,
der mich zu Annas Erhebung bringen sollte, kam erst um elf. Aber trotzdem â¦
»Es würde mir so viel bedeuten,
nicht allein sein zu müssen.«
Ich schluckte die Absage
runter. Niemand sollte alleine leiden müssen, wenn er das nicht wollte. »Okay.«
Ich lächelte matt. »Aber jetzt muss ich erst mal nach Hause und ein wenig
schlafen.«
»Danke, Edie. Ich danke Ihnen.«
Sie strich mir mit einer mütterlichen Geste eine Haarsträhne aus dem Gesicht,
dann drehte sie sich um und ging.
Kapitel 44
Â
Mein
treuer Bewacher in dem schwarzen Wagen fragte sich bestimmt, was das eigentlich
sollte, als ich an diesem Morgen kreuz und quer durch die Stadt fuhr und die
Obdachlosenunterkünfte abklapperte. Ich hatte erst Asher und dann Jake eine
Nachricht auf die Mailbox gesprochen, aber bisher hatte sich keiner von beiden
gemeldet. Ich wusste nicht, wo ich noch suchen sollte. Die gröÃeren Unterkünfte
hatte ich durch, und die kleineren kannte ich nicht alle. Ãberall waren die
Leute sehr nett und lieÃen mich nachsehen; meine Arbeitskleidung und die leise
Panik in meiner Stimme waren da sicher hilfreich. Vielleicht dachten sie, diese
Aktion sei Teil eines vorgezogenen Neujahrsvorsatzes.
Völlig erschöpft fuhr ich
schlieÃlich nach Hause. Der schwarze Wagen parkte ganz in der Nähe, aber es
stieg niemand aus. In der Wohnung starrte ich noch einmal niedergeschlagen auf
mein Handy, dann duschte ich, stellte meinen Wecker auf halb fünf und kroch ins
Bett. Kurz bevor ich einschlief, bekam ich eine SMS .
Asher. »Alles in Ordnung.«
»Danke, danke, danke«, schrieb
ich zurück. Mit einer Sorge weniger schlief ich ein.
Der Wecker klingelte
schneller, als mir lieb war. Wieder schlüpfte ich in die OP -Kleidung und fuhr auf
den Freeway. Es war Silvester, auf den StraÃen war wieder mehr los, aber bis
jetzt waren noch keine betrunkenen Fahrer unterwegs. Das Wetter war auch nicht
besonders einladend: Am Himmel hingen dunkle Wolken, und der leichte Schneefall
vom Morgen hatte die StraÃen in Eisbahnen verwandelt.
Als ich vor dem Krankenhaus
parkte, hielt der schwarze Wagen hinter mir.
Tagsüber war ich nicht gerne
auf Y4 .
Von meinen Leuten würde niemand da sein, nur die aus der Tagesschicht, und
niemand fand es sonderlich toll, wenn Kollegen aus anderen Schichten auf der
Station herumlungerten. Die meisten von uns waren auch so schlau, das nicht zu
tun, so wie Charles. Hoffentlich war sein Flieger trotz des schlechten
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