Visite bei Vollmond
Wetters
gestartet, sodass er mit seiner Frau schon weit weg in Sicherheit war.
Die Fahrstuhltüren öffneten
sich, dann die Doppeltür, und schon war ich wieder auf Y4 . Ich nickte der
Diensthabenden Stationsschwester zu, ging zu den Wergehegen und fand dort Helen
vor Winters Zimmer. Als ich zu ihr trat, streckte sie die Hand aus und stützte
sich auf mich.
»Vielen Dank, dass Sie gekommen
sind, Edie.«
»Gern geschehen.«
Lynn starrte mich verblüfft an,
als sie Helens Reaktion sah. Ich zuckte nur hilflos mit den Schultern und legte
der Werwölfin einen Arm um die Taille.
»Ich weiÃ, es ist ein
furchtbarer Zeitpunkt für diese Frage, Helen, aber ⦠was wird Harscher Schnee
wegen der anderen Werwölfe hier auf der Station unternehmen?«
»Eventuell wird der Mond auch
ihre Probleme lösen. Wir werden sie in unsere Gruppe aufnehmen â nur weil sie
Viktors Leute waren, heiÃt das nicht, dass sie nicht zu uns gehören können.«
»Wäre es nicht einfacher, ihnen
die Injektion zu verpassen?«, fragte ich über ihren Scheitel hinweg.
»Nein. Sie haben ihre Wahl
getroffen. Jetzt müssen sie damit leben.«
»Aber â¦Â«
Sie löste sich von mir und
schaute mir ins Gesicht. »Das Leben ist nicht immer fair.« Ich wusste nicht,
was ich darauf erwidern sollte, und sie schmiegte sich auch schon wieder an
mich. »Keine Sorge, wir werden sie gut behandeln.«
Die Zeit kroch dahin.
Von meinem Standort in Winters Zimmer aus konnte ich keine Uhr sehen, schon gar
nicht mit Helen an meiner Seite, die mich nicht loslieÃ. Aber den Monitor
konnte ich überprüfen â seine Werte waren wie gehabt, immer eine Stufe über dem
Abgrund. Winter bekam die maximale Dosis Noradrenalin, Dopamin und
Phenylephrin, etwas anderes konnten wir ihm nicht mehr geben.
Helen wusste, wann es so weit
war. »Wenn alles vorbei ist, falls keine Besserung eintritt â könnten Sie dann
die Tür schlieÃen und seinen Körper einfach in Frieden lassen, bis wir morgen
zurückkommen können?«, fragte sie mich. Ich nickte. Sie drückte mich noch
einmal an sich, lieà mich dann los und ging näher an das Bett heran.
Diesmal beobachtete ich ihre
Verwandlung genau: Helen beugte sich krampfartig vor. Die Hände wurden zu
Pfoten, als würde ihr jemand Fellhandschuhe überstreifen, und ihre FüÃe
sprengten die Schuhe wie pelzige Stiefel. Dann verschwand ihre Kleidung und für
eine Millisekunde war sie nackt, bevor sich das Fell wie eine Decke über ihre
Haut breitete. Ihr Gesicht verwandelte sich als Letztes, und da sie mir den
Rücken zuwandte, konnte ich es kaum sehen; erst als sie auf allen vieren zu
Winter schlich und ihn mit der Schnauze anstupste. Sie stemmte die Vorderpfoten
auf den Tisch neben dem Bett â der Gott sei Dank für Werwölfe konstruiert war,
sonst hätte er das Gewicht nicht ausgehalten. Dann beugte sie sich über ihn und
leckte mit einem leisen Winseln sein Gesicht.
Wir warteten: Helen an seiner
Seite, ich bei der Tür und Lynn drauÃen auf dem Gang. Nichts geschah.
Helen lieà das Bett unter ihren
Pfoten erbeben, einmal, zweimal, dann glitt sie zu Boden und wandte sich ab.
Sie setzte sich hin, lieà erst den Kopf hängen und stieà dann ein klägliches
Heulen aus. Die Einsamkeit in diesem Laut erinnerte mich an das Pfeifen eines
Zuges, der für immer davonfährt. Wieder und wieder heulte sie, bis ihre Klage
im ganzen Zimmer, nein, auf der ganzen Station widerhallte. Die Töne jagten einander
und überlagerten sich, als wüssten sie, dass Winter nie wieder irgendetwas
jagen würde.
Als Helen fertig war, sah sie
Lynn und mich ausdruckslos an. Lynn kam ins Zimmer. »Ich mach das schon.« Helen
trottete zu mir und schmiegte sich in Wolfsform an meine Beine.
Wenn man die lebenserhaltenden
MaÃnahmen einstellt, erhöht man die Medikamentenzufuhr, während man
gleichzeitig den Sauerstoff runterdreht. Macht man es richtig, sieht niemand,
wie der geliebte Mensch in dem Bett nach Luft schnappt. Mit etwas Glück atmet
der Patient noch einmal tief ein und aus, und dann ist es vorbei. Lynn
schaltete nach und nach die Monitore und die Blutdruckpumpen aus. Dann ging sie
zum Beatmungsgerät und senkte die Sauerstoffzufuhr, während sie gleichzeitig
mehr Fentanyl gab. Winters Blutdruck fiel rapide ab, sein Puls wurde langsam
und unregelmäÃig. Sein Herz schlug
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