Visite bei Vollmond
noch dreimal, jeder Pulsschlag wie ein
tiefes Seufzen, dann war es vorbei.
Helen lieà den Kopf hängen.
»Möchten Sie hierbleiben?«,
fragte ich sie. Manchmal wollten die Angehörigen in der Nähe warten.
Sie schüttelte den Kopf.
»Ich habe den Schlüssel zum
Familienkonferenzraum. Wir könnten sie die Nacht über dort unterbringen. Er
liegt im Gang vor der Station, die dritte Tür auf der linken Seite.« Lynn
reichte mir den Schlüsselbund. Helen und ich verlieÃen gemeinsam Winters
Zimmer, doch sie sah sich noch einmal um.
»Ich verspreche es Ihnen: Wenn
wir fertig sind, werden wir die Tür schlieÃen.«
Helen nickte in ihrer
Wolfsform, und ich brachte sie zum Konferenzraum. Es dauerte einen Moment, bis
ich den richtigen Schlüssel fand, doch dann lieà ich sie in das Zimmer, in dem
lediglich ein Konferenztisch, Stühle und eine Bank standen. »Wir holen Sie dann
morgen früh ab und bringen Ihnen OP -Kleidung mit.«
Helen ging hinein und streckte
sich auf dem Boden aus. Ich schloss die Tür und kehrte zu Lynn zurück.
Die Vorschrift besagte, dass
alle Zugänge an der Leiche verbleiben mussten und nichts angerührt werden
durfte, bis der Gerichtsmediziner eintraf. »Er kommt wahrscheinlich später,
heute ist ja Feiertag«, meinte Lynn.
»Nicht für jeden von uns.« Ich
gab ihr den Schlüsselbund zurück. »Ich muss los.«
Erst im Aufzug fiel mir
wieder ein, dass ich etwas vergessen hatte. Also drückte ich ein paarmal auf
den Kellerknopf, um zu sehen, ob die Kabine die Richtung ändern würde, aber es
passierte nichts. Ich musste erst bis ins Erdgeschoss fahren und dann wieder
runter. So etwas hätten die Schatten normalerweise urkomisch gefunden: Diese
unzähligen kleinen Frustrationsquellen, die den Leuten die Zeit stahlen. Wo
waren sie wohl hin, und wann würden sie wiederkommen? Gina und Rachel mussten
heute Nacht arbeiten, die Ãrmsten. Ich konnte nur hoffen, dass Meaty sie
irgendwie beschützen würde.
Ich ging zurück in den
Umkleideraum und riss meinen Spind auf. Annas Zeremonialdolch lag noch genau
dort, wo ich ihn vor fast einer Woche hingelegt hatte, inklusive Geschirrtuch.
Ich packte ihn in meine Handtasche und machte mich auf den Weg.
Der schwarze Wagen folgte mir
nach Hause. Ich machte mir wenig Gedanken darüber, wer ihn wohl fuhr;
vielleicht hatten Werwölfe ja auch menschliche Helfer, so wie Vampire. Mir war
das egal. Als ich nach Hause kam, war es schon fast sieben. Der Verkehr war
ziemlich dicht gewesen, lauter Leute, die zu Silvesterpartys wollten, die
sicher ganz anders aussehen würden als meine.
Kapitel 45
Â
Ich
hatte keine Ahnung, was man zu einer Vampirparty anzog, also entschied ich mich
für etwas Bequemes. Wieder einmal Jeans und ein weiter Pulli. Ich legte meinen
Silberarmreif an und unter dem Pulli den Gürtel mit der Silberschnalle. Dabei
verdrängte ich jeden Gedanken an das letzte Mal, als ich beides getragen hatte.
Um elf Uhr trat ich vor das
Haus, dort wartete bereits eine Limousine auf mich. Eines musste man den
Vampiren lassen: Sie hatten Stil.
Doch ich war
mutterseelenallein, lediglich die Fahrertür stand offen. Während ich irritiert
um den Wagen herumging, fragte ich mich, was nun von mir erwartet wurde. Sollte
ich etwa einfach einsteigen? In den Filmen war immer jemand da, der den Leuten
die Tür aufhielt, und meinen Abschlussball hatte ich ohnehin verpasst.
Neben der geöffneten Fahrertür
lag eine reglose Gestalt in Chauffeursuniform auf dem Boden, und eine breite
Blutspur zog sich wie ein Teerfleck über den weiÃen Schnee. An ihrem Ende
hockte etwas, das nicht ganz Mensch und nicht ganz Wolf war â und wartete auf
mich.
»Menschenhure«, knurrte eine
raue Stimme.
»Jorgen?« Er trug immer noch
sein Bowlinghemd und war immer noch kahlköpfig, aber seine Nase und sein Kiefer
hatten sich verformt, sodass sie eine Art Schnauze bildeten. »Ich denke, ich
brauche keinen Schutz mehr«, sagte ich und wich hastig zurück.
»O doch, und wie!«
Und damit stürzte er sich auf
mich.
Ich wollte rückwärtslaufen,
rutschte aber im Schnee aus, und genau das rettete mich. Während ich auf dem
Hintern landete, segelte er über mich hinweg. Sofort versuchte ich, nach ihm zu
treten. Er packte meine Knöchel und zog mich zu sich heran.
»Jetzt, wo der Mond am Himmel
steht, müssen wir uns nicht mehr
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