Visite bei Vollmond
verpasst bekam.
Hinter ihm bogen ein Mann und eine Frau um die Ecke, die sich fest
aneinanderklammerten.
»Hör auf damit, Jorgen,
sofort«, befahl die Frau, woraufhin der Typ von meinem Tisch zurücktrat. Ich
beugte mich vor, nahm alle Unterlagen an mich und legte sie auf meinen SchoÃ.
Dann rollte ich wieder zurück, um aus seiner Reichweite zu kommen.
Die Frau war mittleren Alters,
eine leicht ergraute Blondine in einem marineblauen Hosenanzug. Sie hatte den
Arm um einen jüngeren Mann geschlungen, der sie offenbar stützte. Sie sah sich
um und stöhnte auf.
»Oh, er ist hier, Jorgen â¦
genau wie ich befürchtet habe.« Sie hob eine Hand in seine Richtung, woraufhin
er ihr den Arm entgegenstreckte. Wie ein Affe, der sich von einer Liane zur
nächsten schwingt, wechselte sie ihre Stütze und kam so näher zu mir. »Wie ist
sein Zustand? Geht es ihm gut? Was wissen wir bisher?«
»Nichts«, fauchte Jorgen
wütend. »Sie will nicht einmal eingestehen, dass er hier ist. Obwohl ich seine
Anwesenheit deutlich wittern kann.«
Der jüngere Mann trat vor. Er
war ungefähr in meinem Alter und unauffällig gekleidet: Jeans, olivgrüner
Kapuzenpullover.
»Was können Sie uns sagen?«,
fragte er mich.
»Gar nichts.« Im Moment war ich
quasi schutzlos. Meaty war ein ganzes Stück entfernt hinter der nächsten Ecke,
Gina war immer noch in dem Krankenzimmer, und die Schatten waren nicht gerade
für ihr gutes Timing bekannt, solange es ihnen nicht gerade in den Kram passte.
Ich drückte die gesammelten Werte von Winter an meine Brust. »Tut mir leid. Ich
darf Ihnen nichts sagen.«
Die Frau entglitt Jorgens Arm
und trat um den Schreibtisch auf mich zu. Ihre eisblauen Augen waren verheult.
»Sie müssen ihn retten. Sie müssen alles tun, was in Ihrer Macht steht.« Sie
legte mir eine Hand aufs Knie und klammerte sich unerbittlich an meinen Kittel.
»Absolut alles. Verschaffen Sie ihm nur genug Zeit bis zum Vollmond«, flehte
sie.
Der junge Mann legte ihr eine
Hand auf die Schulter, dann stand sie auf. »Jorgen, Helen â lasst uns gehen.«
»Aber diese Krankenschwester
weià etwas â¦Â«, protestierte Jorgen.
»Ganz sicher sogar. Doch wir
halten sie nur davon ab, ihre Arbeit zu machen. Und wenn er wirklich hier ist,
wäre das absolut nicht in unserem Sinne.« Er warf mir einen flüchtigen Blick zu
und legte dann schützend die Arme um die weinende Frau. »Sorgen Sie dafür, dass
er in Sicherheit ist â und am Leben bleibt.«
Alles in mir schrie danach, zu
nicken oder die drei zu trösten, aber das durfte ich nicht. Offiziell war er
nicht hier. Und auÃerdem machten nur dumme Krankenschwestern Versprechungen,
die sie nicht halten konnten. Ich war keine Tiermedizinerin und hatte keine
Ahnung, wie sich sein Zustand entwickeln würde â ein weiterer Grund, warum Gina
jetzt dort drin war, und nicht ich.
Jorgen lieà seinen abschätzigen
Blick durch den Flur wandern, dann sah er mich durchdringend an. »Wir werden
zurückkommen«, sagte er. Und dann heulte er. Er war in Menschengestalt, weshalb
das Heulen verzerrt klang, es war nur die grobe Imitation eines echten Heulens.
Helen fuhr erschrocken zusammen, der junge Mann wirkte überrascht. Doch dann
stimmten sie mit ein, und ihre Stimmen klangen wölfischer, ihr Alt und sein
Tenor verbanden sich zu übernatürlichen Klängen. Ich hatte noch nie erlebt,
dass Menschen solche Töne von sich gegeben hatten.
Die Wölfe vor mir hielten die
Augen geschlossen, als würden sie ein inniges Gebet sprechen. Ihr Heulen klang
in dem kurzen Gang noch eine Weile nach, fast als wollte das Echo ihnen
antworten.
Als sie fertig waren, lieÃ
Jorgen den Kopf hängen. »Er hätte geantwortet, wenn er könnte.«
Helen schluchzte, woraufhin der
junge Mann sie enger an sich zog. Vereint in ihrem Kummer gingen sie den Flur
hinunter.
Ich wartete dreiÃig Sekunden,
dann klopfte ich an die verschlossene Tür. »Komm raus, Gina.«
Der Monitor schaltete sich ein,
mitten im Bild stand Gina. »Bist du noch ganz?«
»Ja, auch wenn ich das nicht
dir zu verdanken habe.«
Die Tür zu Winters Wergehege
öffnete sich. »Hey, immerhin war ich mit einem kranken Werwolf da drin.«
» Du warst mit einem
Betäubungsgewehr bewaffnet«, erwiderte ich. Lachend gab sie mir die Waffe
zurück und streifte ihren
Weitere Kostenlose Bücher