Visite bei Vollmond
Schutzkittel ab. »Hast du irgendetwas von hier
drauÃen mitgekriegt?«
»Ja, ich habe die Kamera umgeschaltet.
Eine klassische Telenovela, würde ich sagen.« Sie warf den Kittel in den
Wäschewagen.
»Sind die Formwandler alle so â¦
emotional?«
»Kommt auf die Art und das Tier
an. Wölfe? Ja. Katzen? Weniger. Das ist aber auch abhängig vom Rudel, der
Familie, dem Grad des Wer-Anteils, ob führend, untergeordnet, gebissen oder
gebürtig â¦Â«
»Okay, okay. Tut mir leid, dass
ich gefragt habe. Und was hatte das alles zu bedeuten?«
»Es bedeutet, dass ich nicht in
der Haut des Sozialarbeiters stecken will, der morgen früh Dienst hat â und
dass ich froh bin, morgen Nacht freizuhaben.«
Neidisch legte ich die
Krankenakte zurück auf den kleinen Tisch. »Was nun?«
»Jetzt brauche ich erst mal
frische Antibiotika. Falls die Apotheke mir keine runterschickt, könntest du
mir dann etwas zusammenmischen?«
Die Aussicht auf eine konkrete
Aufgabe, die nicht darin bestand, Besucher anzulügen, belebte mich. »Klar doch,
bin gleich wieder da.«
Der Rest der Nacht
verlief ruhig, und der Ãbergabebericht für die Tagesschicht ging schnell. Am
Fahrstuhl winkten wir Nachtschwestern uns noch einmal zu, bevor jeder seiner
Wege ging. Ich sah Charles vor mir in der Eingangshalle â er musste wohl den
Fahrstuhl vor mir erwischt haben.
Mit einem kleinen Sprint holte
ich ihn ein, als er in strammem Marsch durch die Eingangstür nach drauÃen ging.
»Hey, Fremder, wo warst du denn letzte Nacht?«
»Bei meinen Patienten.«
»Und es hat dich kein einziges
Mal ans andere Ende des Flurs verschlagen? Was ist los, stinke ich etwa?« Ich
verpasste ihm einen kumpelhaften SchulterstoÃ.
Charles lief einfach weiter,
sodass ich kaum mitkam. »Nein, aber als Meaty mir verraten hat, wer unser
Patient ist, habe ich einfach die FüÃe still gehalten. Die zahlen nicht genug,
als dass ich mich um den kümmern würde.«
»Die zahlen nicht genug, um
sich überhaupt um jemanden zu kümmern«, sagte ich fröhlich. Charles ignorierte
mich. »Komm schon, Charles. Was ist los?«
»Diese Narbe, die ich dir
gezeigt habe, die habe ich mir während des letzten Werwolfkrieges eingefangen.
Habe versucht, zwei von ihnen zu trennen, als sie sich auf dem Flur geprügelt
haben. Hinterher sagen sie immer, sie könnten ihre eigene Stärke nicht
einschätzen, und dass es ihnen leidtut. Aber das ist eine dreckige Lüge.«
»Tut mir leid, Charles.«
»Ist ja nicht deine Schuld.
Aber bitte mich in nächster Zeit höchstens um einen Beutel Kochsalzlösung,
okay? Und selbst dann könnte es sein, dass ich ihn dir quer über den Flur
zuwerfe.«
»Alles klar. Zum Glück kann ich
gut fangen.«
Wir standen an der Ampel, die
zu den Parkplätzen führte. »Ich parke heute mal legal, Spence. Wir sehen uns.«
»Fröhliche Weihnachten,
Charles.«
»Dir auch.« Er winkte mir zu
und bog dann in Richtung des Angestelltenparkhauses ab.
Kapitel 11
Â
Das
Gefühl, mich jetzt nicht mehr an Charles wenden zu können, gefiel mir nicht.
Und alles, was er fürchtete, machte mir schon instinktiv Angst. Charles war
mutig, clever und stark. Er war die Art Mensch, die ich als Krankenschwester
gerne sein wollte â wenn ich endlich alles wusste oder zumindest manches besser
wusste.
Ich tastete mich durch die
morgendliche Dunkelheit zum Besucherparkplatz vor. Dort sah es immer aus wie in
einem Kriegsgebiet: alte Fast-Food-Tüten, schmutzige Windeln, platte
Getränkedosen â eben der ganze Müll, der liegen bleibt, weil es den Leuten
nicht zuzumuten ist, ihn fünf Meter weit zu einem der vielen Mülleimer zu tragen.
In die Rinde der wenigen noch lebenden Bäume waren die Geburtsdaten von Kindern,
Gangsymbole und Schweinereien geritzt. Ãberall lagen Krankenhausarmbänder
herum, so als hätten die Patienten sie abgekaut wie Hunde, die ihr Halsband
loswerden wollen. Der verdreckte Schnee machte die Sache nicht besser.
Akribisch wich ich einigen matschigen Hundehaufen aus, bis ich endlich meinen
Wagen erreichte â an dessen Kotflügel eine Gestalt lehnte. Ein Mann in einem
grünen Kapuzenpullover.
Kurz spürte ich den kalten Wind
im Rücken, dann nahm der Mann die Kapuze ab und sah mich an. »Es tut mir leid,
dass ich Sie hier so überfalle«, sagte
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