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Visite bei Vollmond

Visite bei Vollmond

Titel: Visite bei Vollmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cassie Alexander
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Zunge raus.
    Â»Bloß nicht die Tür ablecken,
da bleibst du kleben.« Grinsend riss ich meine Wohnungstür auf. »Komm rein.«
    Â»Danke.« Er kam rein und
stampfte mit den Füßen. Jedes Mal, wenn ich ihn sah, wirkte er gepflegter als
vorher. Okay, heute lag das wahrscheinlich an dem Mantel, der neuer aussah als
der bei unserer letzten Begegnung. Durch ihn wirkte Jake etwas kräftiger,
vielleicht wegen der Daunenfüllung.
    Â»Schicker Mantel.«
    Â»Das Geschenk einer mildtätigen
Seele.«
    Ich hatte erwartet, dass er
ironisch oder reumütig klingen würde, aber nichts dergleichen. Vielleicht lebte
er ja gerne von den Almosen anderer. Von mir bekam er ein paar Pullis und neue
Handschuhe. Was sollte man einem Obdachlosen sonst schenken? Ich hatte ihm oft
genug angeboten, auf meinem Sofa zu übernachten.
    Â»Ich dachte, Mom und Peter
wären schon da?« Er zog den Mantel aus und hängte ihn in den Garderobenschrank.
    Â»Sie wollten um elf kommen.«
Ich ging zum Thermostat und stellte die Heizung höher. »Und, wie läuft’s?«
    Â»Alles wie immer.« Er setzte
sich aufs Sofa und zupfte an dem neuen Bezug. »Immer noch besser als die
Blutflecken.«
    Â»Wenn wir schon dabei sind …«
Ich ging in die Küche, um den Backofen vorzuheizen – je schneller wir
Weihnachten hinter uns bringen konnten, desto besser für meine Schlafbilanz.
»Davon brauchen sie nichts zu wissen, okay?«
    In seinen Augen flackerte ein
vertrautes Leuchten auf. »Was ist dir das wert?«
    Ja, ja, dieses Spiel hatten wir
schon oft gespielt. Ich deutete auf die leere Stelle, wo früher mein Esstisch
gestanden hatte. »Dass ich Mom nicht verraten werde, was aus meinem Tisch und
den sechs Stühlen geworden ist.«
    Jake lehnte sich gegen die
Polster. »Abgemacht.«
    Irritiert runzelte ich die
Stirn. Eigentlich sollte ich nicht mit ihm feilschen müssen. Oder mich bei
irgendwem für irgendetwas rechtfertigen. Aber er hatte mitbekommen, dass ich in
letzter Zeit ziemliche Probleme gehabt hatte. Und auch wenn ich weder ihm noch
irgendjemand sonst Rechenschaft schuldig war, wollte ich nicht, dass dieses
Essen durch gegenseitige Schuldzuweisungen ruiniert wurde. Davon hatte es in
der Vergangenheit schon genug gegeben.
    Es klopfte. »Ich gehe schon.«
Als Jake sich von der Couch erhob, ging ich mich umziehen, da ein Pyjama mit
Füßen wohl nicht ganz angemessen war für eine Weihnachtsfeier.
    Â»Jakey!«, hörte ich vom
Schlafzimmer aus meine Mom krakeelen. »Wo ist Edie?«
    Â»Zieht sich gerade an …«
    Â»Hilf doch bitte schnell Peter,
ja?«
    Ich hörte ihre Schritte im
Flur, und natürlich klopfte sie nicht an. Der Sinn und Zweck einer Tür war
meiner Mutter fremd, was vielleicht dazu beigetragen hatte, dass Jake und ich
dieses Passwortspiel erfunden hatten, allein um zu beweisen, dass gewisse
Grenzen existierten. Sie kam ins Schlafzimmer gestürmt. »Edie!«
    Â»Hallo, Mom.« Meine Mutter,
Shelly-Rae Spence (inzwischen Grinder), war kleiner als ich und wesentlich
zierlicher. Während meiner Pubertät hatte sie mich gerne als stramm bezeichnet
– was ich eigentlich nicht war, höchstens im Vergleich zu ihr. Für sie war es
nur ein Witz, aber ich war als Teenager extrem sensibel gewesen und mir neben
ihrer Gazellenhaftigkeit wie ein Elch vorgekommen.
    Â»Fröhliche Weihnachten!«, rief
sie und breitete die Arme aus. Ich schaffte es gerade noch, mein Oberteil
überzuziehen, bevor sie mich packte. Verlegen erwiderte ich ihre Umarmung.
    Â»Frohe Weihnachten. Ich habe
den Ofen vorgeheizt.«
    Â»Wieder einmal gut mitgedacht!
Deswegen bist du auch mein Liebling!« Jake und ich waren immer abwechselnd ihre
Lieblinge, was sie gerne auch in Hörweite des jeweils anderen verkündete.
»Schieb den Truthahn in den Ofen, Peter!«, brüllte sie in Richtung Flur. »Wir
haben ihn heute Morgen schon vorgegart, bevor wir losgefahren sind«, vertraute
sie mir dann etwas gedämpfter an.
    Â»Danke, Mom.«
    Sie tätschelte meinen Arm. »Ich
weiß doch, dass du ein Langschläfer bist.«
    Noch bevor ich etwas zu meiner
Verteidigung vorbringen konnte, ging sie ins Wohnzimmer. Dass ich lang schlief
hatte einzig und allein damit zu tun, dass ich erst vor zwei Stunden aus der Arbeit gekommen war! Aber meine Mutter und ich hatten diese Diskussion
schon unzählige Male geführt,

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