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Visite bei Vollmond

Visite bei Vollmond

Titel: Visite bei Vollmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cassie Alexander
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normalerweise, wenn sie mich vor drei Uhr
nachmittags oder aus einer anderen Zeitzone anrief.
    Ich zählte bis zehn, um mich zu
beruhigen, und folgte ihr dann.
    Jake kämpfte gerade mit dem
Klapptisch, den meine Mutter mitgebracht hatte, und Peter war in der Küche. Ich
bezweifelte, dass sich jemals so viele Menschen gleichzeitig in meiner winzigen
Wohnung aufgehalten hatten.
    Â»Das mit deinem Esstisch ist
wirklich eine Schande, Edie.« Mom stellte Klappstühle auf und platzierte sie
vor dem Sofa.
    Peter zeigte mit einem Löffel
auf mich, an dem Kartoffelstückchen klebten. »Hast du mal im Internet geschaut?
Ist das Glas vielleicht wegen eines Produktionsfehlers zerbrochen?«
    Â»Ã„h … ehrlich gesagt, habe ich
daran gar nicht gedacht.«
    Â»Na ja, du solltest denen aber
auf jeden Fall einen Beschwerdebrief schreiben.«
    Mein Stiefvater Peter war der
Typ Mensch, der gerne Beschwerdebriefe schrieb. Und der Typ Mensch, der einem
Kellner auf die Frage, ob es geschmeckt habe, immer ehrlich statt höflich
antwortete, so als wäre er davon überzeugt, dass die Köche ernsthaft daran
interessiert sein könnten, dass sein Burger ein wenig trocken war. Falls man
ihn fragte, ob man einen dicken Hintern hatte, wurde das meistens bejaht. Er
war nicht bösartig – ihm fehlte einfach eine gewisse Filtervorrichtung, die bei
sozial etwas besser geschmierten Menschen automatisch eingebaut war. Wenn man
allerdings bedachte, dass mein biologischer Vater den Alkohol als sein einziges
soziales Schmiermittel erwählt hatte, sollte ich wohl erfreut sein.
    Ich warf Jake – dem Urheber des
eigentlichen Tischmalheurs – einen bedeutungsvollen Blick zu. Er zog es vor,
ihn nicht zu erwidern. »Das mit dem Brief werde ich mir mal durch den Kopf
gehen lassen.«
    Â»Mach das.« Peter nickte mir
lächelnd zu. Dann fegte er sämtliche Sachen von der Arbeitsplatte, um an eine
Steckdose zu gelangen, und wenig später wurden die Kartoffeln lautstark
gestampft.
    Meine Mutter schlug vor,
dass wir unsere Geschenke aufmachen sollten, während das Essen heiß wurde. Ich
hatte ihr das Gleiche besorgt wie immer, einen Pullover und eine Flasche von
ihrem Lieblingsparfum. Mein Bruder bekam von Peter einen neuen Rucksack. Ich
bemerkte die leise Enttäuschung, die er hinter einem Lächeln verbarg. Brandneue
Sachen signalisierten automatisch, dass jemand noch nicht lange auf der Straße
lebte, sie waren sozusagen ein blinkendes »Frischling«-Schild. Jake würde ihn
irgendwie künstlich verschleißen lassen oder gegen etwas anderes eintauschen
müssen. Peter hatte keinen blassen Schimmer, was es hieß, obdachlos zu sein.
Ich eigentlich auch nicht, aber durch die Klientel des County und durch meinen
Bruder hatte ich ein paar Dinge gelernt.
    Mir schenkte Peter einen Gürtel
mit einer großen, abstrakt gestalteten Silberschnalle. »Der ist bestimmt bald
in Mode«, versprach meine Mutter und tätschelte mir wieder den Arm, während ich
das Ding aus der Verpackung hob. Als ich die Quittung am Boden des Kartons
entdeckte, musste ich grinsen. Wohl eher bald umgetauscht.
    Meine Mutter hielt ihr Geschenk
für mich bis zum Schluss zurück. Es war weich und hatte genau dieselbe
eindrucksvolle Größe wie die herben Geschenkenttäuschungen meiner Kindheit: ein
hässliches Kissen von der ungeliebten Oma oder ein billiges Stofftier von der
Tante. Leicht beklommen zerriss ich das Geschenkpapier und fand – einen
hübschen neuen Wintermantel. Er war türkis und hatte große Goldknöpfe.
    Â»Deine Mutter hat ihn schon
letztes Frühjahr im Schlussverkauf gekauft«, informierte mich Peter.
    Es war ein eher zweckmäßiges
Geschenk, ja. Aber auf jedem anderen Mantel, den ich besaß, klebte
irgendwelches Blut. Strahlend drückte ich den Mantel an mich. »Der ist
perfekt.«
    Da waren wir also alle
versammelt und feierten ein völlig durchschnittliches Weihnachtsfest, aber
diesmal war es ausnahmsweise wirklich schön. Peter war gerade dabei, die
Truthahnfüllung herumzureichen, als sich Großvater – der inzwischen neben dem
Toaster positioniert worden war – zu Wort meldete.
    Â»Was ist das denn?«, fragte
Peter.
    Â»Den hat mir die Familie eines
Patienten geschenkt«, log ich schnell und sprintete zum Tresen. »Weil ich kein
Deutsch konnte.«
    Â»Das ist aber nett von ihnen.«
    Â»Ja, nicht wahr?« Aber

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