Visite bei Vollmond
mein Bruder aussah? Oder meine Mutter? Wem
hatte er beim Essen etwas gereicht? Gerade, als alles so normal erschien ⦠ich
hätte nicht in meiner Wachsamkeit nachlassen dürfen. Aber wie viel Wachsamkeit
hatte ich nach nur zwei Stunden Schlaf überhaupt noch übrig? Ich spürte, wie
ich blass wurde.
»Edie?«, fragte Asher.
»Ist schon in Ordnung, ich
erkläre es«, sagte meine Mutter und streckte die Hand aus, um seine zu
tätscheln. Vermutlich um die Spannung abzubauen, die sich zwischen uns allen
angestaut hatte.
»Nein, lieber nicht!« Ich warf
mich über den Tisch, um die Berührung zu unterbinden.
»Edie!« Peter war empört.
»Tut mir leid. Es war einfach
ein langer Tag für mich.« Ich nahm Ashers Hand vorsichtshalber in meine, zog
ihn zu mir rüber und nickte in Richtung Jake. »Meine Familie hat eben ein paar
Geheimnisse. Das verstehst du doch sicher?«
Asher schaute auf meine Finger,
die sich unter dem Tisch so fest um seine Hand krallten, dass die Knöchel weiÃ
hervortraten. Er erwiderte sanft den Druck. »Aber natürlich, Schatz.«
»Danke«, sagte ich erleichtert,
aber ich ahnte, dass es bereits zu spät war.
Jake kam zurück an den Tisch
und schwenkte sein Handy. »Tut mir leid, das war meine Mitfahrgelegenheit.«
»Wir könnten dich auch
mitnehmen, Jake«, wandte meine Mutter ein.
»Nö, ihr solltet noch bleiben.
Es ist ja so ein schönes Fest«, stellte er spöttisch fest.
»Dann lass uns deinem
mysteriösen Freund wenigstens ein paar Reste einpacken.«
»Vorher möchte ich aber noch
wissen, was Edie von ihrem Freund geschenkt bekommen hat«, verkündete Peter.
Vorsichtig sah ich zu Asher
hinüber. Obwohl es nicht sehr wahrscheinlich war, bestand doch die Möglichkeit,
dass er tatsächlich vergessen hatte, dass meine Familie heute hier war, und er
mir irgendetwas intim-frivoles gekauft hatte. Darüber hinaus war es ihm
durchaus zuzutrauen, mich absichtlich blamieren zu wollen. So oder so: Aus der
Nummer kam ich nicht mehr raus.
Ich machte mich auf alles
gefasst, nahm die Schachtel und schüttelte sie. In ihrem Inneren klapperte
etwas Schweres. Nachdem ich hastig die Verpackung entfernt hatte, kam ein
schlichter Silberarmreif zum Vorschein. Zweifellos echtes Silber, was mir auch
Ashers Lächeln bestätigte.
»Nur für alle Fälle«, sagte er.
Und zwar die Fälle, in denen ich etwas abwehren musste, das allergisch auf
Silber war.
»Wie hübsch!«, säuselte meine
Mutter.
»Allerdings. Vielen Dank,
Kevin.« Ich legte den Armreif um.
Peter warnte Asher: »Ich wette,
Edie hat kein bisschen Silberpolitur im Haus.«
Zum Glück ersparte mir die
Türklingel weitere Reinigungstipps. »Ich gehe schon«, verkündete Jake, als ich
aufstand. Er war noch vor mir an der Tür. »Hey, Raymond«, grüÃte er, nachdem er
aufgemacht hatte. »Raymond, das ist meine Familie. Familie, das ist Raymond«,
fuhr er möglichst lässig fort.
Raymond war ein WeiÃer mit
Dreadlocks, der fingerlose Handschuhe trug. Er wirkte dünn, malträtiert und
ausgelaugt. Und auch wenn mein Krankenschwesternradar noch nicht perfekt
ausgeprägt war, musste man nicht besonders viel Erfahrung mitbringen, um zu
sehen, dass der Typ auf meiner Türschwelle ein Junkie war. Mir wurde flau im
Magen.
»Es war toll, euch zu sehen,
Mom, Peter.« Jake beugte sich runter und gab unserer Mutter einen Kuss auf die
Wange.
»Die Reste hast du?«, fragte
Mom ihn.
»Na klar.«
Meine Mutter lächelte
strahlend. »Ich bin sehr stolz auf dich, Jake.« So fing es immer an. Bevor er
wieder bei ihr einzog â aber zum Glück war da noch Peter. Er hatte dem ewigen
Kreislauf ein Ende bereitet: Jake schmarotzt bei unserer Mutter, lässt sich
teure Entziehungskuren finanzieren und enttäuscht sie dann doch wieder, wenn er
in den Sumpf zurückkehrt.
Ich wusste, dass einzig mein
Wechsel zu Y4 dafür gesorgt hatte, dass er clean wurde, und
dass nur meine weitere Arbeit dort garantierte, dass er es auch blieb. Solange
ich auf Y4 schuftete, würden die Schatten verhindern, dass
er wieder high wurde. Was ihn allerdings nicht davon abgehalten hatte, es
wieder und wieder zu versuchen. Für meinen Bruder starb die Hoffnung zuletzt.
Obwohl ich all das wusste, war
ich heute auch fast schon stolz auf ihn gewesen â bis ich herausgefunden
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